Über Klatsch:Die Promis der anderen

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Von wegen kultureller Niedergang: Ununterbrochen erzählt man uns, Klatsch über Prominente habe den "ordentlichen Diskurs" ersetzt. Doch unser Interesse an Prominenten hat nichts mit Verdummung zu tun.

Sarah Churchwell

Wir werden heute mit der Ansicht bedrängt, dass unsere Kultur eine "Verdummung" erfahre - ein Begriff, der so geschmacklos ist, dass er als Beispiel für seine eigene Aussage dienen könnte. Ununterbrochen erzählt man uns, Klatsch über Prominente habe den "ordentlichen Diskurs" ersetzt. Statt von authentischer Kultur seien wir von Gemachtem umgeben.

"Menschen, Bilder, Emotionen" - und Daniela Katzenberger: In seinem Jahresrückblick beim Privatsender RTL ließ Günther Jauch auch die als Nachfolgerin von Verona Pooth gehandelte Blondine zu Wort kommen. Doch unser Interesse an Prominenz, gleich welcher Form, hat grundsätzlich erst mal nichts mit Verdummung zu tun.   (Foto: dapd)

Nehmen Sie etwa folgendes Zitat aus dem angesehenen amerikanischen Magazin Harper's: "Wir mögen Essen aus der Dose, eingemachte Hitze, Konservenmusik, vorgefertigte Informationen, abgedroschene Kultur. Das grundsätzliche Problem mit der vielkritisierten jüngeren Generation ist ihre Ignoranz (...) Und Hollywood ist der Ort, an dem die Jungen und Ignoranten Erfolg ohne Mühen erwarten (...), den Ruhm ohne vorhergehende Leistung." Diese Klage scheint uns geläufig - sie wurde allerdings bereits 1923 veröffentlicht. Die Vorstellung, dass sich unsere Kultur in einem Zustand des unaufhaltsamen Niedergangs befindet, ist eine sehr alte Vorstellung.

Auf der Suche nach dem Klatsch

Als ich Nachforschungen über ein Buch über F. Scott Fitzgerald aus dem Herbst 1922 anstellte, versuchte ich, mehr über das kulturelle Milieu zu erfahren, das den "Großen Gatsby" prägte. Ich ging also in Zeitungsarchive auf der Suche nach Klatsch und den Ursprüngen der modernen Prominenten-Kultur.

Zu meiner Überraschung entdeckte ich eine Reihe von Artikeln über erstaunlich moderne Themen, von denen sich viele lasen, als ob sie auch heute geschrieben worden sein könnten.

In großen Zeitungen wie der New York Times und in nationalen Magazinen wie Harper's fand ich, zwischen anderen überraschend zeitgemäß klingenden Inhalten auch einen Bericht darüber, dass das US Department of Commerce schätzt, dass bis Jahresende eine neue mobile Kommunikationstechnik in über einer Million amerikanischen Haushalten vorhanden sein werde. Außerdem einen Artikel über Frauen, die sich künstlich befruchten lassen. Einen Artikel, der erklärt, dass wegen Arbeiten im Floridastrom befürchtet wird, der Golfstrom könnte abgeschnitten werden und so einen extremen Temperaturrückgang in Europa verursachen. Hollywood wird für einen Film kritisiert, der nichts als bezahlte Reklame sei und die Story nichts anderes als eine Entschuldigung für Product-Placement. Ich fand einen Artikel über die Vorherrschaft der englischen Sprache im modernen Wirtschaftsleben.

Einen Artikel über moderne Bankgeschäfte und die Risiken deren enormer Abhängigkeit von Krediten. Ein Betrüger namens Charles Ponzi stand vor Gericht, weil er ein Schneeballsystem betrieb. 1922 wurden Mobiltelefone in Zügen getestet. Auch die Übertragung von Filmen durch das Radio malte man sich aus. Man stellte sich sogar das E-Book vor: Das "Lesegerät von Fiske, entworfen, um den Lesestoff auf Tabloidformat zu reduzieren und um es jedem zu ermöglichen, viele Bücher mitzunehmen, ohne dass auch nur die Taschen ausgebeult werden", wurde in der New York Times, vom 2. März 1922 vorgestellt. Sogar mit dem Gedanken an ein Smartphone wurde gespielt. Ein französischer Erfinder patentierte 1922 ein Gerät, das in die Sonnenschirme von Damen eingepasst wird. Damit sollten sie Radio hören und während eines Spaziergangs zu Hause die Köchin anrufen können.

Man hatte zwar die Ideen, aber einfach noch nicht die richtige Technologie. Die Zahl der Ideen für Mobilgeräte explodierte 1922 innerhalb von Monaten, angefacht durch eine revolutionäre neue Technologie: das Radio. Bis zum Jahr 1922 war das Radio eine militärische Apparatur, die vor allem von der Marine benutzt wurde. Innerhalb von nur zwölf Monaten gab es dann geschätzte 1,5 Millionen Rundfunkempfänger allein in amerikanischen Haushalten. Das Radiohören wurde auf einen Schlag zum beliebtesten Zeitvertreib in Amerika und der übrigen Welt. Die amerikanischen Zeitungen waren 1922 genauso besessen vom Radio und seinen Auswirkungen auf die Gesellschaft, wie wir es heute davon sind, auf welche Weise die digitalen Medien und das Internet unsere Gesellschaft verändern. Das Radio erschuf das erste wirklich kollektive Publikum.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wie der Promi-Schriftsteller entstand.

Man kann viel über eine Epoche lernen, wenn man sich die Wörter ansieht, die sie dem allgemeinen Sprachgebrauch zugefügt hat. Das Wort Rundfunk und seine Ableger wurden im Englischen alle zum ersten Mal 1922 verwendet. Und es war im Oktober desselben Jahres, als Großbritannien eine Anstalt gründete, die British Broadcasting Company hieß - die BBC. Es ist kein Zufall, dass im Oktober 1922 zum ersten Mal der Gebrauch des Begriffs "Massenmarkt" belegt ist, der Begriff "Massenmedien" taucht zum ersten Mal 1923 auf.

Genau wie die modernen Medien wurden die modernen Promis erfunden. Das geschah nicht in den letzten zwanzig Jahren, es geschah zwischen 1919 und 1922, als Filme vom Novum zum Bedürfnis wurden und das Radio von der Marine in die heimischen Wohnzimmer umzog. Promis wurden als spektakuläre Individuen ersonnen, Individuen, die den Massen ein Spektakel bieten.

Der Promi-Schriftsteller ist nur eine besondere Form von Prominenz, und Scott Fitzgerald war an seiner Erfindung nicht unbeteiligt, da er großen Wert darauf legte, dass sein Leben genauso spektakulär war wie seine Bücher. Er schrieb, dass er die Rolle des Beobachteten der des Beobachtenden vorziehe. Fitzgerald verbrachte 1922 viel Zeit damit, sich das Angebot durch den Kopf gehen zu lassen, gemeinsam mit seiner Frau Zelda die Hauptrollen in der Filmadaption seines eigenen Romans Diesseits vom Paradies zu spielen.

Der "Promi" taucht zum selben Zeitpunkt auf wie die Massenmedien. Wenn die Öffentlichkeit zum Publikum wird, werden die Menschen zu passiven Beobachtern der Leben anderer Leute. Prominente sind dann die, die sich von den Massen abheben. Und wir versuchen, uns selbst in diese Konversationen, diesen spektakulären Rahmen einzubringen - indem wir Reality-TV schauen, Klatsch-Magazine lesen oder Webseiten von Boulevardblättern kommentieren.

Essenzieller sozialer Akt

Promi-Klatsch ist zu einer Chiffre für die Verdichtung von Klatsch bis hin zur Erzählung geworden. Diese Art Klatsch ist einerseits von Film, Internet oder Radio abhängig, andererseits vom kollektiven Interesse an denselben Persönlichkeiten, ein Interesse, das erzeugt und aufrechterhalten wird von den Medien, die 1922 zum ersten Mal erwähnt wurden.

Wenn der "ordentliche" zivile Diskurs von den Massenmedien und vom Promi-Klatsch verdrängt und ersetzt wird, dann findet dieser Prozess seit nahezu einem Jahrhundert statt. Aber dieser vermeintliche kulturelle Niedergang hat etwas von einem Märchen, das wir uns erzählen:

Vor langer, langer Zeit gab es einmal hochgeistige Menschen, die nie tratschten. In dieser historischen Phantasie führten die Leute erhabene Diskussionen über die platonische Ideenlehre und nicht darüber, ob Platon gerne Sex mit Kriegern aus Sparta hatte oder ob er in seiner Toga ein wenig fett ausgesehen hat.

Wenn wir aber die Klassiker zur Hand nehmen, dann stoßen wir auf das Gerücht, dass Ovid wegen seines Geschwätzes über die Tochter des Kaisers ins Exil geschickt wurde. Und Catull soll ins Exil geschickt worden sein, weil er skurrile Verse über berühmte Römer schrieb. Niemand hat jemals einen Weg gefunden, die Menschen vom Tratschen abzuhalten. Einige Anthropologen glauben, wir haben eine evolutionär bedingte Anlage für den Klatsch.

Kultur besteht aus den Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen - Geschichten wie in der Literatur, Geschichten aus Magazinen und Zeitungen, von denen alle mit Klatsch zu tun haben. Klatsch ist der Ausdruck eines sozialen Drangs: Er zeigt unser Interesse an den anderen. Erst wenn wir die Geschichte und Literatur als essenziellen sozialen Akt verstehen, können wir den Klatsch richtig verstehen.

Die Autorin ist Dozentin für Amerikanische Geschichte und Kultur an der University of East Anglia.

Aus dem Englischen von Matthias Waha.

© SZ vom 12.01.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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