Über die Zeit:Wir haben nichts mehr zu erwarten

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Fortschritt ist Gegenwartsbewältigung: Warum Karten die Uhren ersetzt haben und GPS der Big Ben der Gegenwart ist.

Bernd Graff

Ein Paar in einem Auto. Er fährt. Sie sitzt schläfrig auf dem Beifahrersitz. Irgendwann ist sie eingeschlafen. Der Mann fährt durch die Nacht. Wieder wach geworden, fragt sie ihn: "Wie lange habe ich geschlafen." Er antwortet: "500Kilometer."

Der Begriff der "Echtzeit", nichts dauert mehr, alles geschieht gleichzeitig: Ob E-Mail oder Digital-TV-Serien. Alles überall instant. (Foto: dpa)

Schon seltsam, oder? Die Frage nach der Dauer wird mit einer Angabe von Distanz beantwortet. Raum für Zeit. Das funktioniert offenbar. Denn man versteht es.

Der Film, aus dem dieser kurze Dialog stammt, ist von Wim Wenders: "Bis ans Ende der Welt". Auch im Titel gibt es ein Spiel mit Raum und Zeit. Denn das Ende der Welt kann einmal das räumliche und einmal das zeitliche Ende meinen.

Nur, was ist dann los, wenn man diese Szene einmal symptomatisch nimmt, mit unseren Kategorien, ja, lebensbestimmenden Determinanten? Wie ist es möglich, dass sie anscheinend so einfach füreinander einspringen können? Obwohl das Vergehen von Zeit, die unumkehrbare Abfolge von Ereignissen, und die Durchschreitung des Raumes, der ausgedehnten Wirklichkeit, völlig unterschiedliche Bedingungen unseres Lebens sind.

Eine Kränkung der Zeit

Tatsächlich verbirgt sich mehr dahinter. Denn die Raum-für-Zeit-Einsetzung ist in Wahrheit mehr eine Kränkung der Zeit als eine Betonung des Raumes. Denn es gab da mal eine Epoche, gar nicht so lange her: die Moderne, in der Zeit emphatisch aufgeladen, ja, das Arkanum war, ein Glücks-, Heils- und Fortschrittsbringer, auf den man sich optimistisch, wie man war, einfach verlassen konnte. Die Zeit heilte damals nicht nur alle Wunden, sie brachte mehr Wissen.

Denn darauf vertraute der moderne Mensch: Das Morgen, die Zukunft wird neu und besser sein als die Vergangenheit und das Heute waren. Weil dann mehr Wissen angesammelt sein wird, bessere Technik vorhanden sein wird und die Menschen im Sinne Kants mündiger geworden sein werden - und diese grundpositiven Entwicklungen sich auch noch immerfort beschleunigen.

Ihren Ursprung hat die fast religiös aufgeladene Bedeutung von Zeit in der Aufklärung. Der Glaube daran hält sich bis nahezu zum Ende des 20. Jahrhunderts. Diese Zeit-Emphase artikuliert sich in Fortschrittsglauben und etwa in den "neuen, verbesserten Formeln", mit denen für Waschmittel in Supermärkten geworben wurde.

Die Brüsseler Weltausstellung von 1958 hat das Atomium als Wahrzeichen: ein Symbol für das Atomzeitalter und die friedliche Nutzung der Kernenergie. Programmatisch schreibt Friedrich Michael Fels 1891 über die Moderne: "Wir stehen an der Grenzscheide zweier Welten; was wir schaffen, ist nur Vorbereitung auf ein künftiges Großes, das wir nicht kennen, kaum es ahnen."

Die Zeiten des Zeitenglücks sind vorbei

Noch Theodor W. Adorno schreibt in der Ästhetischen Theorie: "Die Autorität des Neuen ist die Autorität des geschichtlich Unausweichlichen." Jürgen Habermas spricht von einem Zeitbewusstsein, das Rückschritt nicht kennt und schreibt über die Moderne: "Exemplarische Vergangenheiten sind verblasst: Die Gegenwart ist der Ort, wo sich Traditionsfortsetzung und Innovation verschränken." Bekannt ist diese These auch als die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen". Man möchte nostalgisch werden. Denn die Zeiten dieses Zeitenglücks sind vorbei. Ein Atomium würde heute niemand mehr bauen.

Niklas Luhmann hat den tiefgreifenden Mentalitätswandel in der Moderne, ausgelöst durch Kriege, Krisen, Katastrophen, die ja auch alle mit Modernitätsschüben und ihrer Technik einhergingen, einmal so umschrieben: "Ohne Zweifel erschrecken wir heute, wenn wir unsere Gesellschaft betrachten, die wir so, wie sie ist, weder gewollt noch hervorgebracht haben." Es fehle das Verständnis für die Hoffnung, dass der Mensch, wenn nicht in der Gegenwart, so doch in der Zukunft die Rationalitätsversprechen der Aufklärung einlösen könnte. Und es fehle der "Glaube an die magische Rückführung der Probleme in die Einheit der Zukunft. Auch wenn es nicht mehr so weitergeht, wie Marx meinte, heißt das ja nicht, dass es besser werden muss."

Was aber passiert mit einer Vorstellung von Zeit, die nicht mehr in einem Atemzug mit Utopie gedacht wird? Sie bringt eine stagnierende Gegenwart, einen nunc stans, hervor, den stehenden Augenblick oder die vollendete Gegenwart, die lediglich Jetzt an Jetzt nebeneinander reiht. Der Begriff, der sich dafür eingebürgert hat, ist die "Echtzeit". Nichts dauert mehr, alles geschieht gleichzeitig: Ob E-Mail oder Digital-TV-Serien über alle Kontinente hinweg geschickt oder Telefonate oder Videochats global geführt werden. Alles überall instant.

Alles ist schon da

Das zeigt Wirkung in unserem Weltverstehen. Jean Baudrillard hat sie beschrieben: "Ich meine, dass alles schon passiert ist. Die Zukunft ist schon angekommen, alles ist schon angekommen, alles ist schon da. Die Dinge laufen noch, aber wir wissen, dass sie ins Leere laufen. Es ist nichts mehr zu erwarten." Damit aber wird im Zeitalter von Mobilität und Flugverkehr, von Internet und Telekommunikation der Raum zur gültigen Metapher. Der Raum hat die Zeit ersetzt, aber er ist alles andere als emphatisch aufgeladen. Denn Fortschritt ist Gegenwartsbewältigung, sei's im privaten Konsum, in der Anreicherung des Wissens, in der Erziehung der Kinder. Ein privater Pragmatismus anstelle von Utopie.

Wir wissen, wie man es macht, aber es ändert sich nichts mehr. Nicht mehr, wann etwas passiert, ist daher wesentlich, sondern wo es passiert. Darum haben Karten, also vermessener Raum, die Uhren ersetzt. Denn die Lokalisierung von hier und dort ist bedeutender geworden als die Bestimmung von nun und später. Nur im Sport verhält es sich noch umgekehrt.

Wenn immer gegenwärtiges Jetzt herrscht, bleibt lediglich die Frage von Nähe und Distanz zentral. So zentral, dass sich ihr die Zeit unterordnet. Wenn man so will, ist GPS, das Global Positioning System, der Big Ben unserer Gegenwart. Und darum verstehen wir, dass jemand 500 Kilometer geschlafen hat, um in einem Jetzt aufzuwachen, das anders, aber nicht mehr neu ist.

© SZ vom 23.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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