Udo-Jürgens-Musical:Es tut gar nicht weh

Lesezeit: 5 min

Der röhrende Hirsch des Schlagergewerbes trifft auf gepflegte Prosecco-Unterhaltung: Das Udo-Jürgens-Musical "Ich war noch niemals in New York" kann eigentlich nur ganz schlimm werden. Wird es aber nicht. Das Wunder von Hamburg.

Willi Winkler

Der Sänger Udo Jürgens ist der röhrende Hirsch im Schlagergewerbe, ein Aphrodisiakum, das in keinem deutschen Heim fehlt, eine ständige Aufforderung, beim brünstigen Refrain mitzugrölen.

Gar nicht so schlimm: das Udo-Jürgens-Musical und seine Hauptdarsteller Marie Mäkelburg und Jerry Marwig, hier bei der Premiere mit Udo Jürgens. (Foto: Foto: dpa)

Die Stücke, die der Sänger in seiner unfassbar langen Laufbahn produziert hat und die in ihren Sentenzen längst die Bildungszitate aus Schiller-Balladen abgelöst haben, sind für vieles gut, aber sie eignen sich nicht für ein Musical. Für dieses leichtfüßige Genre stampfen sie zu sehr. Testosteronstarke Schlager sind eben keine Lieder aus einem Singspiel.

Das Musical - jeder weiß es aus "Chorus Line" - besteht aus härtester Arbeit, aber zelebriert werden muss eine himmelblaue Heiterkeit, eine Leichtigkeit, die den Zuschauer zum Jubeln bringen und anschließend aufgemuntert in die Welt entlassen soll. Dafür, denkt man, weiß man, ist der gute, alte Udo Jürgens einfach zu schwer - zu deutsch.

Trotzdem hat sich das niederländische Unternehmen Stage Entertainment in den Kopf gesetzt, aus den Gassenhauern von Udo Jürgens ein Musical zu fabrizieren. Es heißt "Ich war noch niemals in New York" und hatte im Operettenhaus in Hamburg Premiere. Wenn der Eindruck von der Vorpremiere am Samstag nicht trügt, ist ein kleines Wunder geschehen: Udo Jürgens ist nicht bloß musicalfähig, das Stück, dessen Libretto Gabriel Barylli geschrieben hat, ist wider Erwarten ein grandioses Theaterereignis geworden.

Eine Verbindung zwischen Udo Jürgens und der Seestadt Hamburg gibt es nicht, oder nur jene, auf die Connaisseure öffentlich zelebrierter Machtausübung verweisen können: dass der inzwischen 73-jährige Jürgens neulich seine Frau an den inzwischen recht abgetakelten Hamburger Volkstribunen Ronald Schill verloren hat. Die Hafenstadt bietet auch sonst ideale Voraussetzungen: Noch immer zehrt Hamburg von seinem Ruf als offene Stadt, in der vor bald fünf Jahrzehnten die Beatles zusammenfanden.

Vom roten Teppich essen

Die Seefahrt, die ist lustig, und auf St. Pauli wird sich seit einer halben unchristlichen Ewigkeit amüsiert. Die Filipinos unten in den Frachtern dürften allerdings kaum Landgang für einen beschwingten Samstag Abend bekommen, dafür kommt das nicht weniger vergnügungswillige, aber erheblich besser gestellte Städtereisen-Publikum auf die Reeperbahn. Als wär's der Times Square und Innensenator Nagel der profilierungswütige Rudy Giuliani, hat man rechtzeitig zum Start des Musicals eine "Problem-Klientel" ausgemacht und will mit Personenkontrollen, Videokameras und Sofort-Inkasso-Strafen gegen den offenen Verzehr von Alkohol und gegen "Wildpinkler" vorgehen. Bald werden die Erlebnis-Touristen im gekärcherten St. Pauli vom roten Teppich essen können, vorausgesetzt, sie zahlen die Preise, die nicht mehr lustig sind.

Auch "Ich war noch niemals in New York" dürfte für gepflegte Unterhaltung auf Piccolo-Niveau bei ordentlichem Verzehrdruck sorgen, aber bitte nicht draußen auf der Reeperbahn, wo nachts um halb eins alles alkoholisiert sein soll. Wenn sich die beiden treffen, das vollautomatische Musical und der Schmachtkönig des deutschen Schlagers, dürfte also eigentlich nur Murks herauskommen. Aber genau das ist nicht passiert: "Ich war noch niemals in New York" ist trotz seines schunkeligen Titels ein große Unterhaltung.

Es fängt gleich so schlimm an, wie deutscher Schlager nur sein kann: Aus dem Orchestergraben hämmert presto eine Anspielung auf den Übergewichtsklassiker "Aber bitte mit Sahne", es beginnt ein wüstes Hitparaden-Mitgeklatsche, dem ein Potpourri weiterer beliebter und bekannter Jürgens-Melodien folgt. Das kann, denkt der in den Sitz geprügelte Zuschauer, das kann nur ganz schlimm werden. Wird es aber nicht. Zwar kommt die Geschichte nur langsam in Fahrt, aber irgendwann ist sie so absurd, dass man mit katastrophiler Neugier auf den Untergang wartet.

Die Geschichte also: Die TV-Talkerin Lisa Wartberg (Kerstin M. Mäkelburg) ist so ehrgeizig, dass sie für ihre Zuarbeiter kein Auge und für Männer keine Zeit hat. Im Fernsehen lässt sie über die alternde Gesellschaft diskutieren, doch ihre eigene Mutter muss im Altersheim verkümmern. Der Fotograf Axel (Jerry Marwig) ist nicht besser, bereits geschieden und von einem aufdringlich rotzfrechen Zwölfjährigen begleitet. Er hat einen Vater, der ebenfalls im Altersheim schmachtet, wo aber - Überraschung! - altes Herz wieder jung wird und zu altem Herzen findet. Die Alten reißen aus, die Jungen jagen hinterher, streiten sich, verlieben sich, verlassen sich, finden sich am Ende natürlich.

Das Drei-Generationen-Modell, das es in der Familie nicht mehr gibt, wird hier dem geneigten Zuschauer als das wahre Glück vorgeführt. Die aufmunternde Botschaft, dass auch mit 66 oder sogar 76 noch nicht alles vorbei ist, tut allen wohl und nicht besonders weh.

Die Liebe mit abendlichem Goldrand

Wer sagt denn, dass es im Theater nicht momentweise schöner sein darf als im Leben, das jenseits der Reeperbahn wieder so grau und unordentlich und jämmerlich weitergehen muss? Nein, im Theater muss gelogen werden, dass sich die Dachbalken biegen: Auch erfolgreiche Frauen können einen Mann finden; Männer lassen sich, den entsprechenden stimmlichen Einsatz vorausgesetzt, zum Wechsel vom Safari-Outfit zum Anzug überreden; Kinder sind doch das größte Glück; und Schöneres gibt es nicht als die Liebe mit abendlichem Goldrand.

Das alles mit der richtigen Musik vorgetragen, in einem bonbonbunten Bühnenbild, mit einer Truppe hyperaktiver Tänzer, die schnell ihre Kostüme wechseln und dem Abend das Tempo geben, das die Geschichte sonst verhindert.

Die Handlung ereignet sich im Wesentlichen auf einem Kreuzfahrer, was einerseits zu Hamburg passt, andererseits einen steten Wechsel des Bühnenbilds erlaubt. "Danke für die Blumen", die alte Tom-und-Jerry-Nummer, spielt in der Garderobe der Fernsehschaffenden und wird zum ironisch-chorischen Aufschrei der Geknechteten, die den Star ins beste Licht rücken müssen. Mit "Siebzehn Jahr, blondes Haar" beschreibt Axel seiner Lisa etwas uncharmant, wie er sich in seine erste Frau verliebte. Weitere Songs werden nicht weniger gewaltsam in die Handlung eingepasst, sind aber jeweils Anlass zu Ausstattungsorgien (David Gallo) und sagenhaften Kostümschwelgereien (Yan Tax).

Es fehlt nicht die Szene, in der sich die verhärmt Liebenden im Morgengrauen an Deck das Offensichtliche ins Ohr singen: zum Beispiel dass immer wieder die Sonne aufgehe; oder dass - man erfährt es mit Brecht'scher Schlichtheit - mit 66 das Leben erst anfange. Irgendwann ist das aber nicht mehr ernst, sondern so nah an der Parodie des Genres, wie es sich ein Musical nur leisten kann.

Einen traumhaften Höhepunkt erreicht das Stück, wenn Sänger und Tänzer auf der Verwandlungsbühne zusammenkommen, um den Klassiker "Griechischer Wein" neu zu inszenieren. Dabei wird aus dem Gastarbeiter-Klagelied die rührende Liebesgeschichte von Fred und Costa.

Das schwule Paar, seit dem Film "König der Löwen" fast schon Vorschrift, kann den anderen gesellschaftskritischen Jürgens-Schlager, jenen über das "Ehrenwerte Haus", wundersam aktualisieren. Dann erstrahlt das zuckerschnutige Paar (Veit Schäfermeier und Ronny Rindler) vor der quasi-faschistischen Horde, die die beiden hinaustreibt.

Das schwule Paar fungiert auch als Heiratsvermittler und belebt dankenswerterweise die suppige Dauerrede-Therapie, die geradewegs aus der Nachmittagsbetreuung durch Talkshows abgeleitet ist. Ständig muss von Freiheit die Rede sein, von Liebe, Einsamkeit und dem ganzen Schlagerschmarrn. Nicht anders als im Original bei Jürgens wird alles großzügig mit recht feiler Gesellschaftskritik garniert, für das Tagesgeschäft ein bisschen nachgewürzt mit Eva Hermans Heimchen-Philosophie, aber dann wird doch noch alles gut.

In "Ich war noch niemals in New York" gelingt das absolut Unwahrscheinliche: dieses Musical, das zielgruppensicher die alternde Gesellschaft als Rahmenhandlung nutzt, ist trotzdem grell, überdreht, komisch, unterhaltsam.

Jubel im Operettenhaus, heillos Besoffene draußen auf der Reeperbahn, griechischer Wein, ah, es ist eine Lust zu leben.

© SZ vom 3.12.2007/rus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: