Türkei:Schlag mit der Papiermappe

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Er wollte den Freispruch, er wollte reden. Doch der Prozessbeginn wurde für den Schriftsteller Orhan Pamuk zum Spießrutenlauf.

Kai Strittmatter

Orhan Pamuk hat nicht bekommen, was er wollte. Er wollte reden vor dem Richter, er wollte die Torheit der Anklage zerpflücken, die ihn für drei Jahre hinter Gitter sehen möchte.

Orhan Pamuk (Foto: Foto: dpa)

Wegen "Verunglimpfung des Türkentums": Der Schriftsteller hatte in einem Interview gesagt, in der Türkei seien eine Million Armenier und 30000 Kurden umgebracht worden. Pamuk wollte am Freitag den Freispruch.

Sie waren ihm anzusehen, die jüngsten Monate, der Rummel, die Anspannung, die ihn schon so lange vom Schreiben abhalten. Blass und nervös wirkte er ob des Tumults, dann ein Moment, der ihn sichtlich aus der Fassung brachte: eine schreiende Frau stürzte sich vor dem Gerichtssaal auf ihn und schlug ihm mit einer Papiermappe auf den Kopf.

Orhan Pamuk hat am Freitag im Gericht des Istanbuler Bezirks Sisli nicht den schnellen Freispruch erhalten, den er sich erhofft hatte. Bekommen hat er einen Spießrutenlauf durch Reihen rechtsradikaler Schreihälse und zwei weitere Monate quälenden Wartens - der Prozess ist verschoben, auf den 7. Februar 2006.

Die Türkei aber, die hat am Freitag bekommen: eine Menge hässlicher Bilder und ein allmählich wachsendes Imageproblem. Die Regierung strebt nach Europa; sie sagt, Prozesse wie der gegen Pamuk seien lediglich das Werk übereifriger Staatsanwälte, diesen Rückwärtsgewandten werde aber kein Erfolg beschieden sein.

Immer mehr Leute aber fragen, wie es überhaupt zu solchen Anklagen kommen kann. Warum die Regierung bei aller Reformrhetorik so passiv bleibt angesichts der Prozesswelle gegen die Dichter und Denker der Türkei? Und warum sie es nicht einmal fertig bringt, einen von so viel Argusaugen verfolgten Prozess wie den gegen ihren berühmtesten Schriftsteller anständig über die Bühne zu bringen?

Fußball-Nationalspieler, die ihre Gegner verprügeln, empfehlen ihr Land da so wenig wie der chauvinistische Mob, der bei Pamuks Prozess für chaotische Szenen sorgte. Sie hießen ihn einen "Juden" und "Verräter", sie warfen sich ihm in den Weg und bewarfen seinen Wagen mit Eiern.

Der britische Parlamentarier Denis MacShane berichtete, er sei ins Gesicht geschlagen worden - von einem Anwalt der Nebenklage. "So kann man sich selbst Probleme machen", kommentierte der grüne EU-Parlamentarier Cem Özdemir, der ebenfalls als Prozess-Beobachter angereist war, die Vertagung.

Der Ball liegt nun beim Justizministerium: Das Gericht in Sisli wartet auf eine Entscheidung des Ministers, ob der Prozess überhaupt zu eröffnen sei. Der Minister Cemil Cicek spielt derweil den Ahnungslosen und teilte der Zeitung Aksam mit, leider sei die Post aus Sisli noch nicht bei ihm angekommen: "Wie nach dem Wetterbericht, so frage ich jeden Tag nach dieser Akte".

Cem Özdemir sagt, in Deutschland unterschätze man oft die Herausforderungen für die türkische Regierung. Er deutet auf die Protestierer, die sich Wut und Hass von der Seele brüllen: "Hier tobt ein Kulturkampf. Zwischen denen, die in die EU wollen und denen, die ins Mittelalter wollen. Wir sind gut beraten, uns auf die Seite derer zu stellen, die nach Europa wollen."

Viele sind gekommen, sich auf Pamuks Seite zu stellen: Yasar Kemal, der große alte Mann der türkischen Literatur war ebenso im Gericht wie Hirant Dink von der Istanbuler Armenier-Zeitung Agos, der selbst kürzlich zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt wurde.

Ebenso wegen Verunglimpfung des Türkentums, ebenso wegen des Artikels 301. "Orhan Pamuk wird vielleicht freigesprochen", sagt Dink. "Aber wir dürfen nicht vergessen, dass es hier viele kleine Orhans gibt. Willkürartikel wie der 301 müssen weg." Als Dink geht, entdecken ihn die selbst ernannten Verteidiger des Türkentums. "Hau ab!" brüllen sie. "Du bist als Nächster dran."

© SZ vom 17. - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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