Vergangene Woche unterzeichneten 154 namhafte Wissenschaftler, Publizisten und Diplomaten einen Aufruf, in dem sie dagegen protestieren, dass ein Vortrag des britischen Historikers Tony Judt über Nahostpolitik aus politischen Gründen abgesagt wurde. Tony Judt leitet das Remarque Institute for European Studies an der New York University, das er 1995 gegründet hat. Zuletzt erschien von ihm die "Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart" (Hanser, 2006).
SZ: Professor Judt, was ist passiert?
Tony Judt: Ich wurde vor Monaten von der Organisation 20/20 eingeladen, bei einer Veranstaltung im polnischen Konsulat einen Vortrag zum Thema "Israel-Lobby und die amerikanische Außenpolitik" zu halten. Ungefähr drei Stunden vor dem Vortrag teilte mir die Vorsitzende der Organisation mit, die Veranstaltung sei abgesagt worden, weil die Anti-Defamation League und andere Organisationen Druck auf das polnische Konsulat ausgeübt haben.
SZ: Was muss man sich unter "Israel-Lobby" vorstellen?
Judt: Zum einen gibt es die offiziellen Lobbygruppen wie das American-Israel Public Affairs Committee oder die parlamentarischen Aktivitäten von Organisationen wie dem American Jewish Committee oder dem Jewish Institute of Middle East Studies, deren Ziel es ist, den Kongress und die amerikanische Regierung zu einer proisraelischen Außenpolitik zu bewegen. Dann gibt es noch die informellen Lobbygruppen, die dasselbe Ziel verfolgen, aber gleichzeitig als Beobachter fungieren: schreibt jemand kritisch über Israel, reagieren sie.
SZ: Ist es nicht legitim, dass andere Staaten in Washington durch eine Lobby die Außenpolitik zu beeinflussen suchen?
Judt: Natürlich gibt es hier tausende von Lobbygruppen. Lobbyisten für bestimmte Länder, sei es Griechenland, die Türkei oder Israel, sind eine etwas komplizierte Angelegenheit, weil es natürlich etwas anderes ist, ob sich ein Abgeordneter für die Interessen eines anderen Landes einsetzt oder aber für die Interessen einer Industrie. Das erstere wird oft als politisch fragwürdig oder sogar als Form des Landesverrats gesehen.
SZ: Haben Sie mit solchen informellen Lobbygruppen schon vorher zu tun gehabt?
Judt: Ja, in zwei Formen. Da gibt es die Briefkampagnen und die öffentlichen Erklärungen in den Medien, das kriegt man natürlich mit. Was man eher nicht mitbekommt, ist der Druck, den diese Organisationen auf kleine Colleges, auf jüdische Gemeinden und manchmal auch auf nichtjüdische Gemeinden in kleinen Städten und Vororten ausüben - der Druck darauf, keine Leute einzuladen, die sie ablehnen. Halten sich die Schulen und Gemeinden nicht an die Empfehlungen, müssen sie mit Aktionen, Demonstrationen rechnen. Das ist mir und einem Kollegen in Riverdale passiert, als wir dort bei einem Symposium zum Nahen Osten sprachen.
SZ: Welche Probleme haben diese Organisationen mit Ihnen?
Judt: Sie kommen immer wieder auf zwei Punkte aus meinem Essay "Israel the Alternative" zurück, den ich vor drei Jahren im New York Review of Books veröffentlicht hatte. Dort beschrieb ich Israel wegen seiner ethnischen Struktur und der Vorrangstellung, die einer Bevölkerungsgruppe gegeben wird, als Anachronismus. Den zweiten Angriffspunkt bildet meine These, dass die Zukunft Israels und der Palästinenser wahrscheinlich ein binationaler Staat sein wird und dass es darum sinnlos ist, endlos an einer Zweistaatenlösung zu arbeiten, die nie verwirklicht werden wird. Was diese Gruppen an meiner Person stört, ist, dass ich kein Extremist bin. Da gibt es Leute wie Noam Chomsky und Norman Finkelstein, die sehr bekannt und äußerst anti-israelisch eingestellt sind. Die stehen so weit links und allem, was in der politischen Mitte geschieht, so kritisch gegenüber, dass man sie leicht als verrückte Randerscheinungen abtun kann. Ich dagegen bin sehr gemäßigt in meinen Ansichten, etwas links von der Mitte, manchmal nicht einmal links, den Marxismus zum Beispiel sehe ich sehr kritisch. Darum kann ich auch immer wieder in der New York Times oder im New York Review of Books schreiben. Wenn aber ein Gemäßigter solche Dinge sagt, ist das viel bedrohlicher.
SZ: Wo stünden Ihre Argumente denn im Diskurs in Israel selbst?
Judt: In Israel bin ich Teil einer allgemeinen Debatte, meine Artikel stehen in der großen liberalen Zeitung Haaretz. Viele in Israel argumentieren viel radikaler und vor allem zorniger als ich. Als Problem werde ich nur in Amerika gesehen.
SZ: Versucht man also nur in Amerika, die Nahostdebatte einzuengen?
Judt: Der einzige andere Ort, an dem mir das schon begegnet ist, war Deutschland. Ich nehme an, dass es heute nicht mehr so ist, aber vor ungefähr zehn Jahren war ich bei einer Konferenz mit Deutschen, Israelis, amerikanischen und europäischen Juden, die über den Nahen Osten diskutierten. Sowohl die europäischen Juden als auch die Israelis selbst waren viel kritischer gegenüber Israel als die Deutschen, die verlegen wirkten. Natürlich ist dies verständlich, vor allem wenn es um die Frage geht, ob Antizionismus automatisch antisemitisch ist. In Europa ist mir dies sonst nirgends begegnet - außer vielleicht in Polen, wo es eine neue politische Korrektheit gibt, die sich als super-pro-israelisch manifestiert, weil sie pro-amerikanisch sein wollen.
SZ: Bleibt Deutschland nicht ein Sonderfall und sollte deshalb prinzipiell pro-israelisch eingestellt sein?
Judt: Ja schon, aber es sollte keinen blinden pro-israelischen Kurs verfolgen. Sonst hat man das Problem, dass gerade junge Deutsche einwenden, sie verstünden nicht, warum sie sich nicht kritisch über Israels Vorgehen im Libanon oder in Gaza äußern dürfen, schließlich habe das nichts mit dem Holocaust zu tun, sondern mit dem Nahen Osten. Von deutschen Schülern, die ich hier in Amerika treffe, höre ich solche Argumente. Das schadet der Erinnerung an die Geschichte des wirklichen Antisemitismus in Deutschland, weil die jungen Menschen dieses Schweigen verdächtig finden: wenn wir über die Kritikpunkte an Israel schweigen, sprechen wir womöglich auch nicht offen über das Andenken an die deutschen Juden. Man muss sich über die deutsche Vergangenheit und die Vernichtung der Juden in klaren sein, ohne die Kritik an Israel auszublenden.
SZ: Gibt es noch Auswüchse der politischen Korrektheit wie in den neunziger Jahren, als einige Debatten effektiv nicht mehr geführt werden konnten?
Judt: Wenn wir von politischer Korrektheit sprechen, denken wir meist an die politische Linke an den Universitäten. Reden wir aber von Selbstzensur, vom kollektiven Totschweigen heikler Themen, dann ist das an den amerikanischen Hochschulen sehr präsent. In England wurde zum Beispiel bis vor kurzem nicht über die islamische Frage geredet. Jetzt schwingt das Pendel allerdings gerade in die entgegengesetzte Richtung, plötzlich ist es salonfähig, anti-moslemische Einstellungen zu pflegen. Und genau deshalb finde ich diese Formen des kollektiven Schweigens beunruhigend.
SZ: Sind die akademische Arbeit und der wissenschaftliche Austausch in den USA seit dem 11. September allgemein schwerer geworden? Letzte Woche musste ein Symposium der New York University über die Muslimbrüder ohne die beiden Hauptredner stattfinden. Dem einen, der in Kairo als Beirat der Muslimbrüder, aber auch als Vorsitzender des Dachverbands arabischer Mediziner fungiert, wurde kein Visum ausgestellt. Der andere, Gründer der Muslim Association of Britain, wurde in London aus dem Flugzeug nach New York abgeführt.
Judt: Ähnlich ging es ja auch Tariq Ramadan, einem eher moderaten Kopf des modernen Islam, der eine Stelle an der Notre Dame University nicht antreten durfte. Einwanderungsgesetze und Beschränkungen für Veranstaltungen werden zunehmend zu einem Problem. Ich veranstalte solche Konferenzen inzwischen fast immer in Europa, weil ich dort einladen kann, wen ich will. Noch gibt es die freie Rede, nur nicht unbedingt in Amerika.
SZ: Aber gerade das widerspricht dem Grundgedanken Amerikas.
Judt: Wenn sich Amerika bedroht fühlt, neigt es, was Ausländer betrifft, seit je zu Hysterie und Paranoia. Es begann mit dem Ausländergesetz von 1796, ging über die Ausländergesetze von 1918 und 1919 und die McCarthy-Ära bis heute. Ich finde es nicht so beunruhigend, was im Moment geschieht, weil Amerika eben so eine lange Geschichte des Misstrauens gegenüber Ausländern hat, obwohl die Bushregierung sicherlich extremer ist als so gut wie alle Regierungen zuvor. Wirklich beunruhigend ist, dass es keinen Widerstand gibt und es alle kalt lässt. Man darf nicht vergessen, dass die Mehrheit der Amerikaner noch nie ins Ausland gereist ist. Das gilt auch für einen guten Teil der Kongressabgeordneten. Amerika ist ein Land, das ganz froh ist, provinziell und vom Rest der Welt abgeschnitten zu sein. Darum sind juristische Übergriffe gegen die Verbindungen mit der Außenwelt eher willkommen. Eines der beliebtesten Zitate von Bush ist sein Satz, dass wir im Irak gegen sie kämpfen, damit wir nicht hier gegen sie kämpfen müssen. Deshalb interessiert sich auch niemand dafür, ob irgendein Araber nicht ins Land gelassen wird oder irgendein Pakistani sein Recht auf Habeas-Corpus-Recht verliert und fünf Jahre ohne rechtmäßige Anklage festsitzt.
SZ: Nun haben gerade über 150 namhafte Akademiker, Publizisten und Diplomaten eine Erklärung unterschrieben, in der sie die Absage Ihres Vortrages zum Anlass nehmen, gegen die Unterdrückung der Debatte über die amerikanische und israelische Außenpolitik zu protestieren. Von den US-Medien wurde das allerdings nicht weiter wahrgenommen.
Judt: Die New York Times hat mich interviewt, das könnte diese Woche erscheinen. Aber es stimmt. Es war nicht anders, als wir mit dem London Review of Books eine Konferenz zur Israel-Lobby veranstaltet haben. Europäische, israelische, arabische Medien berichteten, aber kein einziges US-Organ. Das ist kein aktives Schweigen. Niemand in Cheneys Büro ordnet an, dass keiner darüber berichtet. Es ist eher ein passives Schweigen. Ich bin fest überzeugt, dass die Universitäten der einzige Ort sind, an dem wir dagegenhalten können. Die Rolle der Universitäten wird in Amerika in den nächsten Jahren äußerst wichtig sein.