Tokio Hotel:Die wollen doch nur spielen

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Sie werden immer nur als Teenie-Phänomen und Weichspül-Rocker bezeichnet. Warum versucht niemand, Tokio Hotel einmal als Musiker zu betrachten?

Jürgen Schmieder

Wer einen Artikel über die Band Tokio Hotel schreibt, der muss mit kreischenden Teenies beginnen, mit ohnmächtigen Fans in ausverkauften Hallen und genervten Eltern vor den ausverkauften Hallen - und einem genervten Thomas Gottschalk, weil kreischende Teenies in der ausverkauften Halle in Ohnmacht fallen und eben keine Eltern im Saal sind.

Dann muss man unbedingt das Wort "Teenie-Phänomen" benutzen und sollte über die Frisur des androgynen Sängers Bill schwadronieren und den Grunge-Style seines Bruders Tom kulturgeschichtlich einordnen. Man sollte ein lockeres "Gus-tav, Gus-Gus-tav" anstimmen und erwähnen, dass man den Namen des vierten Bandmitglieds eh nicht kennt - damit drückt man aus, dass man alt und intellektuell genug ist, um sich von Tokio Hotel zu distanzieren.

Wenn man schließlich über ihre Musik schreibt, könnte man gut die Worte "Weichspüler-Protorock", "Belanglosigkeit" und "pubertärer Pathos" einfließen lassen. Dann sollte man noch anmerken, dass die Texte anderer, unabhängiger Bands inspirierter klingen und einen Satz zur dünnen Stimme von Bill sollte man auch noch verlieren. Damit hätte man das "Teenie-Phänomen Tokio Hotel" feuilletonistisch umfassend abgehandelt.

Man könnte die kulturjournalisische Hochnäsigkeit aber auch mal ablegen und sich ernsthaft mit der Band auseinandersetzen.

Gerade hat Tokio Hotel das schwierige zweite Album herausgebracht: "Zimmer 483". Erste Auffälligkeit: Sänger Bill hat den Stimmbruch hinter sich und bewegt sich gesanglich eine Oktave tiefer - was zur Folge hat, dass er bei Live-Konzerten nicht mehr alle Partien des ersten Albums singen kann.

Seine Stimme ist unverkennbar, Bill hat ihren nervig-nöligen Klang zur Marke entwickelt. Sie verkörpert weniger Rock denn hauchenden Pop. Sie steht im Gegensatz zu den harten Gitarren-Riffs der Band - was oft als Unentschlossenheit ausgelegt wird, welcher Stilrichtung sich Tokio Hotel verschreiben will. Tatsächlich ist es aber so, dass die Gruppe durch diesen Konrast nicht aufweicht, sondern einen eigenen Stil erschafft.

Durchgeknallt auf der Britney-Skala

Der Song "Ich Brech Aus" ist ein Paradebeispiel für den Sound von Tokio Hotel. Da bricht zu Beginn des Stücks ein Riff über den Hörer herein, das durchaus mit Vertretern des Heavy-Metal mithalten kann. Man fühlt sich an Motörhead erinnert. Dann aber kommt der Gesang von Bill, der seine Texte haucht, der einzelne Töne durch das Tremolo seiner Stimmbänder jagt. Das macht den Song nicht verwaschen, sondern unverwechselbar. Deshalb legt Bill in seinen Gesang weniger Emotion als die Texte und Liedtitel vermuten lassen. Man muss nicht jammern, um Verzweiflung auszudrücken. Man muss nicht herumbrüllen, wenn man "Ich Hasse Dich" sagen möchte.

Die Texte von Tokio Hotel sind keine Lyrik, es sind die Berichte von pubertierenden Jugendlichen, die von Erlebnissen mit Groupies, Drogenmissbrauch und dem Leben als Popstar berichten. Musikalisch beherrschen alle vier Bandmitglieder ihr Handwerk. Das Potential ist deutlich erkennbar - man darf gespannt sein, was passiert, wenn die vier mehr eigene Songs schreiben dürfen als nur das eine Stück "Wir Sterben Niemals Aus" auf dem aktuellen Album.

Mehr denn je muss man Popstars als Einheit von Musik und Image betrachten: Die Skandale um Britney Spears lassen Zeitschriften eigene "Britney"-Ressorts entwickeln, Robbie Williams verkauft sich nicht als Liedermacher, sondern als letzter echter Popstar. So auch Tokio Hotel: Sänger Bill Kaulitz ist eine der charismatischsten Figuren der Musikwelt. Er hebt sich ab von anderen deutschen Sängerinnen und Sängern, die mit ihrer Durchschnittlichkeit und Eigentlich-komm-ich-von-nebenan-Attitüde kokettieren. Bill Kaulitz hat die besten Voraussetzungen, um es mit Robbie Williams und Britney Spears in der Kategorie Durchgeknalltheit aufzunehmen - und damit auch auf dem Gebiet Popstar.

Das Gleiche gilt für Bills Zwillingsbruder Tom - und doch ist er eine andere Art Star: Sein Aussehen erinnert an die Gitarristen der1990er - Steven Goddard von Pearl Jam etwa oder Tom Morello von Rage Against the Machine. Die Band komplettieren die eher biederen Gustav und Georg. Sie müssen weniger Star sein - die Kaulitz-Brüder genügen. Mehr kann eine einzelne Band nicht vertragen.

Tokio Hotel spielt im Sommer in ausverkauften Häusern in ganz Europa, die Lieder sollen bald auch in Englisch aufgenommen werden. In den Hallen werden Teenies in Ohnmacht fallen, vor den Hallen aber stehen keine genervten Eltern, sondern erwachsene Menschen, die rhythmisch mit dem Kopf nicken, wenn das Konzert beginnt und die Schalldruckwellen durch die geschlossenen Türen nach draußen dringen.

Man kann Tokio Hotel "Phänomen" nennen, "Pop-Wunder" oder "Teenie-Band". Man könnte sie aber auch einfach als Musiker bezeichnen.

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