Therapie mit Instrumenten:Mozart-Motorik

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In München hat man ein sehr ungewöhnliches Musik-Projekt gewagt: Kinder, die an zerebraler Bewegungsstörung leiden, studieren gemeinsam ein klassisches Konzert ein.

Von Reinhard J. Brembeck

Mozarts 20. Klavierkonzert in d-Moll ist ein Schlager. Es wird weltweit täglich in zahllosen Konzerten und Radiosendungen gespielt. Eigentlich ist es also nichts Besonderes, wenn das Stück jetzt in München geprobt wird. Es geschieht aber im Integrationszentrum der Stiftung ICP, und das macht neugierig. Dies ist nämlich eine Betreuungs- und Fördereinrichtung für motorisch eingeschränkte Menschen.

ICP steht für "infantile Cerebralparese", eine frühkindliche Hirnschädigung, die Einschränkungen der Motorik nach sich zieht. Die Betroffenen haben Schwierigkeiten beim Laufen, Greifen, mit der Koordination. Sie brauchen Therapien, damit sie im Alltag besser zurechtkommen. Renée Lampe, TU-Professorin und Oberärztin am Klinikum rechts der Isar, hat sich dafür etwas ausgedacht: eine Instrumentaltherapie. Ihre Methode erlebt mit dem Mozart-Projekt ihren bisherigen Höhepunkt, es wird bei einem nicht-öffentlichen Konzert an diesem Freitag vorgestellt.

Von der Pforte des ICP aus geht es durch eine lichtdurchflutete Mensa hinunter in den Keller. In einem niedrigen, vollgerümpelten Raum stehen zehn Keyboards, an denen ein Trupp begeisterter Kinder Mozart spielt. Manche sitzen im Rollstuhl, die einen können nur eine Hand bewegen, andere kämpfen sich mit einzelnen Fingern durch ihren Part. Es ist verblüffend, dass sie alle erst seit drei Monaten Klavier spielen, aber bereits wie Profis wirken.

Bisher hat jedes Kind nur mit seiner Klavierlehrerin geübt, jetzt spielen sie erstmals zusammen. Entsprechend aufgeregt sind alle. Wird das Experiment klappen? Es klappt. Das Zusammenspiel holpert nur wenig - und was sich da tut, ist selbst für erfahrene Konzertgänger ein Wunder.

Die Wundermacherin Renée Lampe ist selber eine leidenschaftliche Pianistin, das gab ihr den Anstoß für dieses Projekt. Allein der Gedanke, von Zerebralparese betroffene Menschen am Klavier zu unterrichten, erscheint zunächst absurd. Ihnen fällt es oft schwer, sich ruhig zu halten und ihre Hände gleichmäßig zu bewegen. In einem ersten Projekt bewies Renée Lampe vor fünf Jahren, dass das alles kein Hindernis ist, sondern dass die Musik den Kindern im Alltag hilft, ihre Sozialkompetenz steigert, ihr Leben bereichert. Ihr neues Forschungsprojekt wird von der Friede Springer Stiftung mit 50 000 Euro gefördert, von Casio kommen die 24 Keyboards. Lampe hat je vier Forscher und Klavierlehrer um sich geschart, die sich um die 24 Neupianisten kümmern, darunter auch gesunde Jugendliche aus ihrer Verwandtschaft, die sie als Kontrollgruppe braucht.

Den Ton treffen! Klavierlehrerin mit Leon. (Foto: Alessandra Schellnegger)

"Wir proben jetzt den ersten Teil", sagt Guido Gorna im ICP-Keller. Dann zählt er bis vier, und er wird auch beim Dirigieren laut mitzählen. Die Kinder setzen sauber und konzentriert ein. Jeder spielt einen auf seine Fähigkeiten zugeschnittenen Part. Gorna, ein gelernter Kirchenmusiker und Plattenproduzent, hat aus der Partitur vierzehn Individualstimmen destilliert. Manche bestehen nur aus wenigen Tönen und sind mit Ziffern notiert, andere komplizierter und in der gängigen Notenschrift. Chef-Klavierlehrerin Isabel Meléndez Alba spielt die restlichen Orchesterparts, Renée Lampe die Solostimme. Immer, wenn nur die beiden Frauen im Duett spielen, erlahmt die Aufmerksamkeit ihrer Mitspieler. Erst wenn sie erneut drankommen, sind sie wieder hellwach dabei.

Ein Mädchen hatte an nichts Interesse. Jetzt fragt es: "Wann proben wir wieder?"

Zu Beginn des Projekts hat das Lampe-Team handmotorische Tests durchgeführt. Dafür hätte man die Kinder in eine Kernspinröhre schieben oder Kappen verwenden müssen, wie sie für Epilepsietests üblich sind. Das wollte Renée Lampe nicht. Sie wollte eine Technik, die nicht wehtut und nicht nach Medizin schmeckt, sondern dem spielerischen Charakter des Projekts entspricht. Also verwendete sie eine von ihrem TU-Kollegen Gordon Cheng entwickelte Kappe: Die sieht aus wie ein Kopfhörer und befindet sich genau über den für die Motorik zuständigen Hirnregionen. Die Fortschritte waren erstaunlich: Die Gleichmäßigkeit in den Bewegungsabläufen hatte sich deutlich gesteigert. Das bestätigt die Ergebnisse des letzten Projekts. "Im Kleinhirn hat sich in der Handmotorik eine neue Ordnung eingestellt", fasst Lampes Kollegin Ana Alves Pinto zusammen, "eine neue Vernetzung, weil sich die Finger gleichmäßiger bewegen."

Am Nachmittag findet eine zweite Probe statt, im MFZ, einer Dependance des ICP, in der körperlich schwer eingeschränkte Erwachsene leben, arbeiten und betreut werden. Die meisten der Neumusiker sitzen im Rollstuhl vor ihren Keyboards. Da auch sie zum ersten Mal zusammenspielen, ist die Spannung enorm. Michael kann nur mit einem Daumen steil von oben herab die Tasten treffen. Aber was tut's, dabei sein ist alles. Die Kinder aus Lampes Verwandtschaft haben mindestens genauso mit den Noten zu kämpfen wie alle anderen. Und Lampe selbst kämpft, mit dem Solopart. Gelegentlich schaut sie in die Noten, sucht aber sonst engsten Kontakt zu Pianoprofi Isabel, die die Truppe spielend zusammenhält. In Gornas Fassung kommt das dialogische Prinzip dieser Musik ganz deutlich heraus. Da gibt es nur gleichberechtigte Partner.

Renée Lampe ist Professorin an der TU München und Oberärztin für Kinderorthopädie am Klinikum rechts der Isar. Sie leitet die ungewöhnliche Musikstudie. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Für den Klavierunterricht hat Lampes Physikerkollege Tobias Blumenstein eine ganz neue Technologie entwickelt. Lehrer wie Schüler tragen einen Hightech-Handschuh. Wenn der Lehrer einen Finger bewegt, erhält der Schüler durch Vibratoren einen Impuls für den entsprechenden Finger, ein Lichtsignal zeigt ihm, welche Taste er spielen muss. Die Kinder, die mit diesem "sensomotorischen Klaviertrainingssystem" unterrichtet wurden, machten weniger Fehler als andere. Doch die Klavierlehrer berichten auch von Problemen. Einem dauerte das Anziehen der Handschuhe zu lange, eine andere vermisste die menschliche Nähe zu den Schülern. Eine weitere Lehrerin findet aber, dass die Konzentrationsprobleme der Kinder geringer wurden. Und Isabel fasst die Meinungen zur Unterrichtsmethode zusammen: "Es ist eine gute Hilfeleistung, aber es nimmt die Arbeit nicht komplett weg."

Renée Lampe ist glücklich überrascht, dass die Kinder im ICP die zwei Stunden Probe derart konzentriert durchhalten. Auch sonst konstatiert sie positive Effekte. Joschi hat sich früher nur für Fußball interessiert, war verhaltensauffällig. Jetzt sitzt er ruhig und begeistert in seinem gelben Rollstuhl. Oder Elisa: Die hatte an rein gar nichts Interesse, weder am Ballspiel, Schwimmen noch Eisessen. Jetzt blüht sie am Klavier auf. Genauso Nicolai, der dauernd fragt: "Wann üben wir wieder?"

"Nach diesem Konzert", sagt Renée Lampe, "bin ich dann fertig mit den Nerven. Zwei Jahre arbeite ich darauf hin, es ist das Projekt meines Lebens." Dennoch denkt sie schon etwas Neues an, in Bulgarien. Die Kinder mit Zerebralparese dort sind die Ärmsten der Armen, sie haben keinerlei Lobby. Lampe will sich vier Wochen Urlaub nehmen, mit einem Lastwagen voller Klaviere hinfahren und ein Ferienprojekt machen. Sponsoren findet sie allemal.

© SZ vom 29.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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