Theater in München:Unglück vom Urknall an

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Mathilde Bundschuh als Nina und Michele Cuciuffo als Trigorin. (Foto: Federico Pedrotti)

Alvis Hermanis inszeniert am Münchner Staatsschauspiel Tschechows "Möwe" sehr leise und texttreu. Eine kleine Liebeserklärung an das klassische Schauspielertheater.

Von Egbert Tholl

Der Vorhang geht auf, und René Dumont hält sich einen Revolver an die Schläfe. Er spielt Sorin, den Bruder der Arkadina, sie ist Konstantins Mutter und eine große Schauspielerin, er ist siech und hat vom Leben genug. Es dauert dann bis in den vierten Akt hinein, bis er wirklich stirbt, einfach umfällt, ohne dass dies da noch jemanden sonderlich interessieren würde. Nach Sorin dann eine zweite schöne Szene: Tim Werths, der Medvedenko, den linkischen Lehrer spielt, buhlt um Anna Graenzer, die Mascha. Graenzer sitzt auf einem der zwölf Stühle, die hier an den Wänden stehen, Werths schleicht sich an, ein Blümchen in der Hand, setzt sich neben sie, sie steht auf, setzt sich auf einen anderen Stuhl. Das wiederholt sich mehrmals, es dauert lange, Zeit spielt hier keine Rolle, weil eh' nichts passiert. Schließlich fällt dann doch der erste Satz: "Warum tragen sie eigentlich immer Schwarz?" "Ich bin unglücklich."

Im Grunde ist nun alles gesagt, was Alvis Hermanis in dreieinhalb Stunden erzählen wird: Der Mensch, ja jeder Mensch, ist unglücklich, das ist nun einmal so, daran kann man nichts ändern.

Das führt dazu, dass Hermanis' Inszenierung von Tschechows "Möwe" im Cuvilliéstheater des Münchner Staatsschauspiels mindestens bis zur Pause nach den ersten zwei Akten eine ungeheuer sedierende Kraft entwickelt. Man könnte die Aufführung auch auf Rezept gegen Bluthochdruck verschreiben. Tolle Schauspielerinnen und Schauspieler schleppen sich über die Bühne, sprechen ganz leise, und dabei glaubt man, das Papier rascheln zu hören. Der Eindruck hält bis in den dritten Akt hinein an, doch im vierten ist alles anders.

Der Lette Alvis Hermanis war ein Liebling des deutschen Sprechtheaters, bis er Ende 2015 einige äußerst verworrene Kommentare zur deutschen Flüchtlingspolitik im Allgemeinen und zum Engagement des Hamburger Thalia-Theaters für Flüchtlinge im Speziellen absonderte. Er tat dies im Eindruck der Pariser Terroranschläge, reichlich tölpelhaft, und reihte sich ein in die Galerie jener Künstler, die besser geschwiegen hätten, als sich jenseits ihrer Kunst politisch zu äußern. Danach war die Liebe zwischen Hermanis und den deutschen Theatern erkaltet, nur Martin Kušej, Intendant des Münchner Residenztheaters, hielt ihm die Treue, vermutlich aus zwei Gründen: Er ist ein ähnlicher Sturschädel wie Hermanis, und dessen Arbeiten haben nun einmal eine ganz hohe künstlerische Eigenart. Als Hermanis, ein Beispiel, 2012 an den Münchner Kammerspielen Gorkis "Wassa" inszenierte, war die ganze Stadt verliebt in die Kraft des detailliert ausgearbeiteten Hyperrealismus der Inszenierung. In der ging es übrigens auch ums elende Leben in der Provinz.

In der "Möwe" wird der Naturalismus während der Aufführung hergestellt, alle Darstellenden tragen erlesene Kostüme und räumen zwischen den Akten immer mehr Mobiliar auf die anfangs recht leere Bühne, ein schmucklos zusammengezimmerter Holzkasten. Nachdem die stumme Kraft des schönen Eingangsbildes verschwunden ist, wird jeder Satz des Stücks vorgetragen, alle verharren in ihrem Gott gegeben Unglück. Manche, wie Thomas Huber als der Arzt mit zynischem Humor, haben ein kleines Leuchten darin, aber so richtig geht das Licht erst gegen Ende an. Dann berührt Sophie von Kessel als Arkadina in ihrem Ringen um Mutterliebe, zeichnet Michele Cuciuffo mit gezähmter Lust Trigorins Verlangen nach Nina. Bei Hermanis ist die "Möwe" kein Künstlerdrama und keine Komödie, sondern ein Drama der Verlorenheit.

Die vollendet sich im letzten Zusammentreffen von Konstantin und Nina. Eine ergreifende Szene von vollkommen auswegloser Traurigkeit. Marcel Heuperman gewinnt, nachdem sein Konstantin sich lange in saftloser Larmoyanz erging, auf einmal eine ganz harte Kontur, lacht mit der schwer zu unterdrückenden Hysterie völliger Verzweiflung. Mathilde Bundschuh war von Anfang an eine zarte, zerbrechliche Nina. Nun formt sie diese zu einem Menschen, der keine Träume und keine Hoffnung mehr hat. Sie ist ganz still dabei und ganz erschütternd. Großartig, aber zu diesem Moment muss man hier erst einmal mühevoll gelangen.

© SZ vom 21.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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