Theater:Im Hain der geflüchteten Frauen

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Markolf Naujoks inszeniert in Erlangen Aischylos' "Die Schutzflehenden" - ohne Männer und auch sonst radikal frei

Von Florian Welle, Erlangen

So häufig, wie das Stück in diesen Tagen aufgeführt wird, dürfte Elfriede Jelineks Um- und Fortschreibung "Die Schutzbefohlenen" mittlerweile bekannter sein als das Original, auf das sich die Dramatikerin bezieht: Aischylos' "Die Schutzflehenden".

Mit "Wut" gab es gerade ein Jelinek-Stück am Markgrafentheater, nun steht tatsächlich das fast 2500 Jahre alte Flüchtlingsdrama von Aischylos auf dem Spielplan. Oder? Das Theater hat den Regisseur Markolf Naujoks verpflichtet, und was dieser nun aus der Vorlage "Die Schutzflehenden" destilliert hat, trägt zu Recht die Beifügung "nach Aischylos" im Titel.

Naujoks hat alle Männer aus dem Stück geschmissen, bei ihm gibt es also keinen Danaos, keinen Pelasgos, keine Ägypter. Dessen nicht genug hat er den gesichtslosen Chor der Töchter des Danaos personalisiert. Zu sehen sind, stellvertretend für alle, drei Frauen: Hypermestra, Elektra, Agaue. Am Ende sprechen sie nicht mehr Aischylos-, sondern Kleist-Text: Sie sind die Amazonen aus dessen "Penthesilea".

Hier schneidet ein Regisseur das Drama radikal auf die weibliche Perspektive zu, und siehe da, es funktioniert, weil ein seit eh und je aktuelles Thema entdeckt wird: die Gewalt gegen Frauen. Die Töchter des Danaos fliehen ja nicht aus irgendeinem Grund aus Ägypten nach Argos, sondern weil sie der Zwangsverheiratung mit ihren Vettern entgehen wollen. Mit der Hinzunahme von Kleist macht Naujoks aus Opfern Täter und dreht seinen wagemutigen Ansatz so noch einen Tick weiter.

Aufregend an dieser Inszenierung ist aber nicht die Zuspitzung allein. Naujoks hat auf der schmucklosen, mit Erde aufgeschütteten Hinterbühne des ansonsten so prächtigen Barocktheaters starke Bilder gefunden, die das dramatische Geschehen ins zeitlos Märchenhafte rücken. Märchen aber sind grausam. Der Hain, in dem die Frauen nach ihrer Flucht Schutz suchen, ist ein Wald aus silbernen Ballons. Hinzu kommt, dass Naujoks sich von Theda Schoppe Bilder im Graphic-Novel-Stil zeichnen ließ, die an die Wand projiziert werden: einmal ein Reh, dann Szenen einer Ehe, schließlich, in Anspielung auf Kleist, eine Schar reißender Hunde.

Anika Herbst, Hanna Franck und Violetta Zupančič spielen die Frauen - letztere nur bei der Premiere, kurzfristig eingesprungen für die erkrankte Janina Zschernig. Umso stärker ist ihre spielerische und gesangliche Leistung zu bewerten. Ja, gesungen wird auch, Naujoks komponiert stets eigene Songs für seine popkulturell aufgeladenen Inszenierungen. Im ungünstigsten Fall klingen sie nach pathetischem Rock-Musical, im besten Fall nach einem brüchigen Song im Stile der Eels. Die überzeugenden Schauspielerinnen begleiten sich selbst auf Mandoline und Klavier, singen "You came to the wrong side of town, where the stars are dying over your head."

Verblüfft blickt man ob der Fülle an Einfällen auf das Geschehen. Und wird gnadenlos überrumpelt. Herbst, Franck und Zupančič postieren sich in ihren blauen Gewändern direkt am Bühnenrand und bitten: "Nehmt der Frauen schutzflehenden Zug auf." Flehen noch einmal und noch einmal, werden immer verzweifelter. Doch wir, das Publikum, das unversehens die Rolle des Volks von Argos übernommen hat, wir bleiben stumm.

© SZ vom 27.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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