Theater:Flucht vor sich selbst

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Jonathan Müller (links) und Jakob Geßner in "Verstehen Sie den Dschihadismus in acht Schritten!" (Foto: Daniel Delang)

Abdullah Kenan Karaca mit "Verstehen Sie den Dschihadismus in acht Schritten!" im Volkstheater

Von Sabine Leucht, München

Hinter fast jedes Wort des Titels ließe sich ein Fragezeichen setzen: "Verstehen Sie den Dschihadismus in acht Schritten!" hat mit dem Dschihad nur dann zu tun, wenn man den Begriff vom "Heiligen Kriegs"-Geschrei distanziert und darunter ganz allgemein den (Lebens-)Kampf versteht. Und wie und warum der bei manchem in Gewalt mündet, kapiert man nach der Lektüre von Sasha Marianna Salzmanns großspurig als Gebrauchsanweisung deklariertem Theaterstück nicht besser als zuvor, das am Ende dem Bescheidwissenwollen selbst eine Nase dreht: "Im Radio reden sie von Gewissen. Das heißt, sie wissen was." Bäh!

In so ziemlich alle Lebensweltfalten und (Beziehungs-)Krisenherde der westlichen Gegenwart hat die Autorin hineingelauscht und hinter dem grassierenden Hass auf das "System" den Fluchtreflex vor sich selbst ausgemacht, vor dem Verlierertum und - origineller! - vor der Kontrolle (oder den Kochkünsten) der eigenen Mutter. Und fast meint man, in der Figur der freien Schriftstellerin, der ihr Mann rät, ihren pathetisch-überzogenen Weltschmerz niederzuschreiben, ein ironisches Selbstbild der Autorin zu erkennen. Denn eine ganze Weile geht es in dem Stück, das Abdullah Kenan Karaca eine knappe Woche nach dessen Uraufführung auf die Kleine Bühne des Münchner Volkstheaters gebracht hat, sehr intensiv ums Befinden von Arbeits- und Liebeskollegen, die hier in Szenensplittern aufeinandertreffen. Da geht es eher als um Gott oder Politik um die Wahl des richtigen Handyklingeltons für traumlosen Schlaf.

Karaca mischt sein vierköpfiges, schauspielerisch glänzend aufgelegtes Ensemble gut durch und schickt Jakob Geßner, Carolin Hartmann, Julia Richter und Jonathan Müller in immer neuen Identitäten auf die Bühne, die Sita Messer in das puristische Schwarzweiß eines Schwimmbadvorraums oder Hamam gewandet hat. Dort steht ein fremder und ferner Gotteskrieger und Lover in spe im Dunkel eines Chatrooms und beeindruckt ein Teenie-Girl schon durch die Entschiedenheit, mit der er ihre Dauersmileys nervig findet.

Dort entdeckt Pawlik den Körper seines Freundes Rüzgar und den Ekel vor den eigenen Bedürfnissen. Oleg zitiert sehnsüchtig aus dem Brief seines in der Ostukraine kämpfenden Bruders und der pingelige "Mann" greift zum "kompakten Mehrzweckgewehr". Jakob Geßner spielt viele dieser Rollen - und vor allem letztere derart grandios zwischen intimem Ton und einer hässlichen Bosheit balancierend, dass man fast vergisst, dass diese Paradefigur des weißen heterosexuellen Selfmade-man besonders konstruiert geraten ist, die von der kalten Betrachtung einer für sie "maßgeschneiderten" Welt fast ruckartig auf den verschiedensten Gewaltfeldern landet: verbal, sexuell, kulturell und mit Waffe. Das kurze Wort "Zucken" hat die Autorin in Klammern hinter den langen Titel gesetzt. Und Sebastian Nübling ließ es solo über seiner Berliner Uraufführung stehen. Im Stück, das Tiefenbohrungen unterlässt, zucken die Schlaglichter auf den sich radikalisierenden Gemütern von heute. In Berlin zuckten dem Vernehmen nach die Körper. Im Volkstheater simulieren psychedelische Videoprojektionen ein Irrewerden der schwarz-weißen Wandfliesen oder zaubern - in der chorisch-statuarischen Eingangsszene - jedem Schauspieler ein zweites Augenpaar auf die Stirn.

Überhaupt ist es eine Freude, dem perfekt rhythmisierten Abend zu folgen. Vor allem dort, wo den Darstellern minimale Haltungs- und Intonationsvariationen genügen, um von einer Rolle in die andere zu wechseln. Doch es gibt auch Szenen, in denen zu große Gesten die kleine Bühne sprengen und es schlicht laut wird statt intensiv. Sie fallen aber nicht groß ins Gewicht in dieser Inszenierung eines Textes, der etwas verschwiemelt mit seinen eigenen Absichten umgeht. Will er analysieren, polemisieren, mahnen? Für Karaca ist er Spielmaterial. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.

© SZ vom 25.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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