Theater:Denk ich an Deutschland in der Nacht

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Oliver Möller als Nathanael. Aus dem Fenster schaut Anna Graenzer, hier als Olimpia, Phantasmagorie eines mechanischen Menschen. (Foto: Matthias Horn)

Robert Gerloff zeigt im Marstall seine Adaption von E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann". Die letzte Premiere unter der Intendanz von Martin Kušej ist mehr als ein literarischer Abend aus der Romantik, er wirkt politisch bis in die Gegenwart

Von Egbert Tholl

Das war's. Ende März, und alle Premieren sind vorbei. Gut, es kommt Ende April noch ein Abend des Jugendclubs, aber im Kern ist "Der Sandmann" die letzte Premiere des Residenztheaters unter der Intendanz von Martin Kušej. Der Hausherr selbst scheint diesbezüglich keine größeren Sentimentalitäten zu entwickeln, anwesend ist er jedenfalls nicht. Er hat was verpasst, so interessant kann es am Burgtheater gar nicht immer sein.

Die Dramaturgin Angela Obst hat zusammen mit dem Regisseur Robert Gerloff eigene Texte geschrieben, die E.T.A. Hoffmanns Erzählung aus dem Jahr 1816 nicht überschreiben, sondern ergänzen. Zur Annäherung daran kann man Obsts brillanten Aufsatz im Programmheft verwenden, der zunächst Hoffmanns Art zu erzählen auf den Punkt bringt: "Die systematische Verweigerung jeglicher Festlegung, knallhart kalkulierte Missverständnisse sind ausgebuffte Erzählstrategien des Autors."

Man kann die Erzählung bedingt objektiv als Schauergeschichte lesen, in der der Sandmann Coppelius Augen von Menschen stiehlt und Professor Spalanzani sich seine Tochter Olimpia als Automat baut. Man kann sich alles als eine Ausgeburt von Natanaels Fantasie denken, die seine Geliebte Clara fast und ihn vollends in den Abgrund reißt. Man kann aber auch, und das tun Obst und Gerloff, aus den Abgründen Hoffmanns die romantische Sehnsucht der Verzauberung von Welt herausdestillieren, die in der Folge zum Mythos einer Nation, zu antisemitischen Burschenschaftlern 1848, dem Nationalsozialismus und dem Verlautbarungsgebräu der neuen Rechten führt. Es war immer da.

Vielleicht kann man Obst und Gerloff vorwerfen, dass ihre Textfassung Zitate und Spracharomen vermengt, Hoffmann selbst ("Der Magnetiseur"), Ernst Jünger, eine Prise Sloterdijk, Fichte und Kleist - und dazu kommt ein Trauermarsch von Beethoven. Das ist nicht analytisch, schon gar nicht, wenn man nachempfundene AfD-Sätze darunterrührt. Aber im Kern geht es ja um eine 200-jährige Kontinuität eines bestimmten Denkens, das vor langer Zeit frei sein wollte, frei schien und heute grausig ist. Nun sinniert Natanaels Vater am Küchentisch über Carl Schmitt, einen der geistigen Architekten der konservativen Revolution, zusammen singen alle das "Vaterlandslied" von Ernst Moritz Arndt. Betörende Melodie, dazu der Text: "Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte." 200 Jahre alt.

Der Abend ist keine thetische Aufarbeitung, hingegen trifft er Hoffmann in seiner Fülle an Phantasmagorien. Gerloffs Kopf ist übervolle Abstellkammer und alchimistisches Ideenlabor gleichermaßen. Kino ist darin, Nouvelle Vague oder Bertoluccis Film "Die Träumer" über drei filmvernarrte Studenten in Paris 1968, die weltvergessen eine ménage à trois leben, während draußen die Studentenunruhen toben. Hier wäre die Ménage Nathanael, Cousine Clara und deren Bruder Lothar.

Die Bühne von Maximilian Lindner ist ein Jahrmarktszauber, psychedelisch und irre, ein großer Luftballon ist Projektionsball, oft mit einem gruselig großen Auge. Aurel Mantheis Auge, der hier Coppelius und dessen Pendant Coppola spielt und dies mit irisierender Klarheit tut. Es ist ohnehin toll, den Fünf auf der Bühne beim denken und spielen zuzuschauen. Arthur Klemt zum Beispiel spielt mit trockenstem Humor Nathanaels Mutter, spielt Lothar und Freund Siegmund, Manfred Zapatka ist der Vater, Spalanzani und der Mann mit der ganz großen Rede, einer rhetorischen Manipulationsmaschine, zentrales Element des Textamalgams und von ihm grandios bewältigt. Ungerührt springt er von der Geburt der Physik zur Erfindung des Techno in Detroit, immer wieder taucht ein Aufbruch gegen den "Verlust der Verzauberung der Welt" auf und ein Postulat der Wiederkehr einer mythischen Zeit.

Das rein menschliche Element sind Anna Graenzer und Oliver Möller, sie Clara und Olimpia, er Nathanael allein. Möller ist ein listiges Nervenbündel zwischen Nathanaels Fantasie und den diskursiven Abgründen. Während Zapatka und Manthei mit ihren Experimenten fast die Bühne zerlegen, flirrt er mit Graenzer und auch mit Klemt um die Liebe herum. Im Schaumbad der Welt abhanden gekommen, besser als "Stahlgewitter" im "Schützengraben des Techno". Manthei als Sandmännchen, Graenzer als Automat - die Aufführung hat viel, was danach im Kopf herumspuken kann. Auch eine Verzweiflung, die kommt durchs Nachdenken. Aber es ist halt doch, gleichbedeutend mit dem Denkauftrag, ein herrlich verspielter Abend mit 5000 Ideen, so in etwa. So wird man also um den Schlaf gebracht. Entweder weil man denkt an Deutschland in der Nacht. Oder weil einen Gerloffs Bilder und die Erinnerung an die Schauspieler wach halten.

© SZ vom 02.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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