Ted-Konferenz:Alarmstufe Rot

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Mediatorin Priya Parker erläuterte Konfliktlösungsstrategien zur akuten Lebenshilfe. (Foto: Bret Hartman / TED)

Panik auf der "Twittanic": Bei der Ted-Konferenz im kanadischen Vancouver überschattet eine digitale Katerstimmung die Zukunftsträumereien des Ideenfestivals.

Von Andrian Kreye

Wenn das Leitmotiv der Ted Conference, des Ideenfestivals in Vancouver, eine durchgehende Alarmstufe Rot ist, gibt es Grund zur Sorge. Einmal, weil Ted als alljährliches Gipfeltreffen der amerikanischen Westküstenelite in den letzten 35 Jahren immer ein optimistischer Ausblick auf die nahe Zukunft war. Und zum anderen, weil hier eine Avantgarde die fünftägige Springflut aus Vorträgen und Performances als Fieberthermometer des Zeitgeistes benutzt. Man kann hier gut erkennen, ob und was sich gerade verändert in Amerika und seiner digitalen Welt.

Kulturell ist die Ted Conference ein perfektes Observatorium mit fast schon sterilen Laborbedingungen. Das Konferenzzentrum, das wie ein glasglänzender Schiffsbug (hey, Aufbruch!) in die Bucht hineinragt, ist in jenem Farbschema aus warmen Holz- und Naturtönen gehalten, welches im oberen Preissegment der kommerziellen Architektur die Pastelltöne der Bürokratie abgelöst hat. Die kulturellen Einlagen zwischen den Vorträgen dienen eher der emotional werthaltigen Ermüdungsprävention. So lenkt man nur wenig vom Zeitgeist ab.

Den erkennt man im Zuschauerraum, an den Büffets und Kaffeebartresen der Konferenz vor allem im expandierenden Spektrum abweichender Verhaltensweisen, also jenem Graubereich zwischen Fauxpas und strafbarer Handlung, in dem jede Gesellschaft ihre Fortschritte und ihren Wertekanon definiert. Das Nichtrauchen ist das klassische Beispiel für solche Entwicklungen, wenn eine Gesellschaft eine schädliche Verhaltensweise ausgrenzt, bis sie zum Signum eines vormodernen Lebensstils wird.

Twitter-Chef Jack Dorsey stellte sich im Hoodie dem Kreuzverhör auf der Bühne

Das ist nun schon etwas her. Würde man sich auf der Ted Conference eine Kippe anstecken, hätte das eine ähnliche Wirkung, als würde man sich die Kleider vom Leib reißen, Opernarien schmettern und dann in die eisige Bucht stürzen. Es ist dabei keine Abstinenzkultur, auch wenn mehr als zwei Glas Wein schon Verdacht erregen und die Kellner und Barkeeper der Konferenz nur auf ausdrücklichsten Wunsch mehr einschenken. Der Konsum ist nur bewusst. Verbrennungsmotoren sind zu vermeiden. Rolltreppen auch. Rindfleisch belastet nicht nur den Verdauungstrakt, sondern vor allem das Klima. Selbstverständlich benutzt man deswegen auch kein Plastik.

Im zwischenmenschlichen Umgang ist jede Form von Respektlosigkeit schon seit einiger Zeit ein Tabu. Und weil das in fortschrittlichen Kreisen schon länger üblich ist, fiel es hier auch leichter, die neuen Verhaltensparameter der Zeit nach "Me Too" zu adaptieren. Heißt, Männer fallen Frauen nicht ins Wort, berühren sie nur, wenn enge Freundschaft oder direkte Familienbeziehungen den Berührungen jeden Hauch der Bedrohung nehmen. Gleichzeitig wird ganz allgemein ein Respekt vor jedweder Identität und Physis vorausgesetzt, der den Spagat zwischen Anerkennung und einer Art sozialer Farbenblindheit zur Selbstverständlichkeit macht. Das alles setzt natürlich ein solches Maß an Positivismus und Gutwilligkeit voraus, dass Ironie und Sarkasmus inzwischen ein Privileg der Komiker sind.

Es sind aber genau solche sozialen Veränderungen, die einer Industrie gefährlich werden, die eigentlich nichts anderes verkauft als digital gesteuerte Verhaltensweisen. Sei es das manische Aufmerksamkeitsbedürfnis auf Facebook und Twitter, die Auslagerung des Gedächtnisses zu Google oder die Transformierung des Knopfdrückens zum Wischen bei Apple. Und was sich in den vergangen zwei Jahren auf der Ted Conference sporadisch in Vorträgen von etwa Jaron Lanier oder Tristan Harris manifestierte, ist inzwischen ein weltweiter Techlash gegen die Abhängigkeiten der Nutzer. In Amerika aber vor allem wegen der Gefährdung jener Grundtugenden, die man als eigene Erfindung reklamiert, der Demokratie und der Freiheit.

Es war allerdings eine Waliserin, die Ted-Chef Chris Anderson als Kronzeugin und Höhepunkt des Auftakts eingeladen hatte. Perfektes Timing - als die Investigativjournalistin der britischen Sonntagszeitung The Observer, Carole Cadwalladr, die Bühne betrat, hatte sie wenige Stunden zuvor erfahren, dass sie für ihre Arbeit über die Machenschaften von Facebook und Cambridge Analytica während des Brexit zur Finalistin der Pulitzer-Preise wurde. Mit zunehmender Verzweiflung erzählte sie dann von der Wucht, die der bizarre Nationalismus im digitalen Raum entwickeln konnte. Wie Facebook mithalf, sämtliche Gesetze freier Wahlen und demokratischer Diskurse auszuhebeln. Wütend appellierte sie an die Facebookführung: "Wenn Sie wissen, dass Ihre Plattform gegen die Wahlgesetze verstößt, warum geben Sie uns dann nicht die Daten?" Eine rhetorische Frage, wo doch jeder im Saal weiß, dass die Black-Box-Natur der Algorithmen das Geschäftsgeheimnis und Kapital der Digitalkonzerne ist. Doch sie sagte: "Das ist Staatsgefährdung. Ihr seid Hebammen für Autoritarismus."

Die Liste der prominenten Silicon-Valley-Aussteiger wird von Jahr zu Jahr länger

Chris Anderson setzte dann noch einen drauf, als er die Titanen des Silicon Valley namentlich aufrief, Mark Zuckerberg, Sheryl Sandberg, Sergey Brin, Larry Page: "Kommen Sie. Wir machen für euch Platz auf der Bühne. Äußern Sie sich!" Sie kamen nicht. Außer Jack Dorsey, Gründer und Chef von Twitter, dessen Auftritt allerdings schon vorher geplant war. Da saß er also im schwarzen Hoodie und schwarzer Wollmütze mit Hipsterbart und einer bizarren Ruhe. Das Kreuzverhör, das Anderson gemeinsam mit der Emmy-gekrönten Politjournalistin Whitney Pennington Rodgers führte, schien ihn nicht zu berühren.

Im Publikum rätselte man später, ob er depressiv, stoned oder einfach nur ein fieser Zyniker war. Er kam wie ein Politiker im Wahlkampf immer wieder auf offensichtlich vorbereitete Talking Points zurück. Dass Twitter alles tue, um Missbrauch zu verhindern, das aber nicht so leicht sei. Dass man die Algorithmen ausbalancieren müsse. Dass Twitter eine Plattform sei, auf der Menschen dazulernen und ihren Horizont erweitern sollen. Bis Anderson ihn mit unterdrückter Wut unterbrach. Das sei, als wäre man auf der "Twittanic", und die einzige Antwort auf das Flehen der Passagiere, den Kurs auf den Eisberg zu ändern, laute, dass das Schiff nicht dafür gebaut sei, den Kurs zu ändern. Dorsey nickte verständnisvoll. Und kam wieder auf seine Talking Points zurück. Cadwalladrs und Dorseys Auftritte zeigten, dass die amerikanischen Sorgen im digitalen Raum auch den Rest der Welt betreffen. Es ist allerdings nicht so, dass die Katerstimmung ohne Auswirkungen bliebe. Die Liste der Silicon-Valley-Aussteiger wird immer länger. Selbst in Washington rumort es. Das zeigte sich im reumütigen Auftritt von Frank Luntz. Das ist der Stratege der Republikaner, der mit perfider Brillanz Kampfbegriffe kreierte. Luntz war es, der aus der Erderwärmung den Klimawandel machte, aus der Erbschaftsteuer die "death tax". Und er zeigte Reue für seine Rolle bei der Erosion der Diskurse. "Populismus ist der Verlust des zivilen Miteinanders", sagte er. Eine ganze Liste von Begriffen brachte er mit, die zeigen sollten, dass der öffentliche Diskurs zum reinen Schlagabtausch geworden ist. Die vernünftigen Alternativen: Respekt statt Toleranz, Inklusion statt Diversität, Mangel an zwischengeschlechtlicher Sensibilität statt toxischer Männlichkeit, Arbeiter ohne Papiere statt illegaler Einwanderer.

Sicher gab es auch dieses Jahr grandiose Einblicke in den Fortschritt. Wie man zum Beispiel mit Astrophysik die Energiekrise der Metropolen in den Griff kriegen könnte. Dass man Hirnströme mit Sensoren in Sprache umwandeln kann. Dass sich in der Biochemie ein Epochenwandel in der Proteinforschung vollzieht, der die Medizin revolutionieren könnte. Trotzdem blieb der Grundton des ersten Tages, diese Angst vor der Erosion der Demokratie und Freiheit im digitalen Raum. Man hatte sogar eine Mediatorin zum Vortrag geladen, Priya Parker, die dem Publikum Methoden aus Konfliktlösungsstrategien für Politik und Wirtschaft als Lebenshilfe mitgab.

Und nein, Pessimismus gilt an der amerikanischen Westküste immer noch nicht als Charakterstärke. Ein wenig Utopie blieb selbst vom finsteren Auftakt. Als Überraschungsgast kam der Astrophysiker Sheperd Doeleman, Leiter der Black Hole Initiative. Seine Geschichte, wie ein globales Team von Wissenschaftlern ein planetengroßes Teleskop konstruierte, um mit dem ersten Foto eines Schwarzen Lochs einen Durchbruch der Erkenntnis zu schaffen, war viel mehr als die übliche Heldengeschichte des Fortschritts. Es war die perfekte Parabel für einen Optimismus, der bei Alarmstufe Rot immer auch etwas Verzweifeltes hat.

© SZ vom 20.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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