Tanz:Vive la Dieffenbachia!

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Drei Choreografen feiern beim Stuttgarter Ballett Revolte und Aufbruch. Zimmerpflanzen spielen auch eine Rolle.

Von Dorion Weickmann

Revolten und Rebellionen sind nicht gerade der Stoff, mit dem Tanzlibrettisten routinemäßig hantieren. Zwar flackert Boris Assafjews 1932 entzündetes Spektakel "Die Flammen von Paris" immer mal wieder über russische Bühnen. Im Westen aber herrscht bei diesem Thema Dauerflaute. Angesichts der Protestbewegungen von den Gelbwesten bis zu den "Fridays for Future" wagt sich nun das Stuttgarter Ballett aus der Komfortzone. "Aufbruch!" heißt der Abend und markiert zwei historische Ereignisse: die Gründung des Bauhauses und der Weimarer Republik vor genau hundert Jahren - Ein Heimspiel für Katarzyna Kozielska, Ex-Ballerina der Kompanie, deren Kreation das dreiteilige Programm im Schauspielhaus eröffnet.

Es folgt eine Uraufführung von Edward Clug, unlängst in Zürich für einen augenzwinkernden "Faust" gefeiert und umworbener Premium-Passagier auf dem internationalen Tanzkarussell. Die Dritte im Choreografenbund ist Nanine Linning, bis 2018 Chefin der Heidelberger Tanzsparte, neuerdings wieder auf dem freien Markt tätig. Davon profitieren demnächst auch die Münchner, denen sie im Juli ein "Duo" mit dem Bayerischen Staatsballett bieten wird.

Im Stuttgarter "Aufbruch!"-Tableau hat Linning die schwierige Aufgabe übernommen, die Straßen- und Barrikadenkämpfe zur Jahreswende 1918/19 und die konstitutionelle Befriedung aufzuarbeiten. Storytelling à la "Flammen von Paris" stand nicht zur Debatte, Linning verhandelt lieber die menschliche Substanz des Aufstandsgeschehens anhand einer abstrakten "Revolt". Das sechzehnköpfige Ensemble in preußischblauen Trikotuniformen wirft dafür die Motoren an, also: Ihre Körper, und treibt deren Drehzahl ans Limit. Arme und Beine spreizen sich wie Waffen in den Raum, verdrängen so viel Platz wie möglich. Ein konspiratives Männertrio bereitet dem Auftritt des Kollektivs den Boden - konzentrierte von Macht oder Ohnmacht, je nach Perspektive. Gemeinsam rücken sie vor an die Rampe, streifen Schutzmasken von verschwitzten Köpfen und pflanzen sie in Reih und Glied vor sich hin - wie Grabkreuze auf Weltkriegsfriedhöfen, die an Schlachten und millionenfache Opfer erinnern.

Feind und Anlass dieser "Revolt" bleiben unsichtbar. Linning fächert ausschließlich gruppendynamische Prozesse auf und findet dafür ikonische Bilder, dank Anleihen bei der Bildenden Kunst. Ihre Putschisten stürmen vorwärts wie Ernst Barlachs expressionistischer "Rächer", lassen die Leiber Richtung Himmel züngeln nach Art des flammenden "Zorn", den Georg Kolbe aus Stein gemeißelt hat.

Wände verschwinden, Neonröhren sausen herab: Der Aufstand hat sich erledigt.

So realistisch wie illusionslos steuert das "Revolt"-Finale in den Abgrund: Wände verschwinden im Schnürboden, Neonröhren sausen herab, während sich im Halbdunkel eine neue, andere Bedrückung über die Aufständischen senkt und ihre Silhouetten zur Erde krümmt. Der Aufruhr hat sich erledigt, Mission vollbracht? Sieht nicht danach aus.

Trotz Nanine Linnings pessimistischem Schlusspunkt bleibt vom Stuttgarter "Aufbruch!" das Amüsante hängen. Das liegt zum einen an Katarzyna Kozielskas "It. Floppy. Rabbit", das sich um die ehelichen und kreativen Gepflogenheiten der Bauhaus-Gründergeneration dreht, was als erotischer Fetischismus (Alma Mahler!) und gegenständlicher Sex-Appeal (eine Wagenfeld-Lampe auf Frauenbeinen) verpackt wird. Zudem ist es Edward Clug zu danken, dessen "Patterns in ¾" virtuos mit Steve Reichs minimalistischem Marimbaklöppeln spielen. Zunächst lässt ein Tänzerseptett die Arme pendeln. Mit der Präzision eines Uhrwerks folgt Schwung auf Schwung - kinetische Mathematik. Wären da nicht die Hände, die jeden seitlichen Anschlag verzögern und durch die Luft streichen wie Korallen in der Unterwasserdünung.

Clugs flagrant formulierte Choreografie entwickelt modellhafte Sprachqualitäten, indem sie die Körper wie typografische Zeichen einsetzt. Aus den Chiffren werden Silben, Worte, ja scheinbar ganze Konversationen gebaut. Auf diese Weise übersetzt "Patterns in ¾" die Schriftexperimente einiger Bauhaus-Pioniere in reinen Tanz - in funktionale und doch ästhetisch funkelnde Gebilde. Ergänzt ist das Ganze mit sinnlicher Süffisanz und schwarzem Humor, der Köpfe über L-förmige Balustraden rollen lässt oder eine Zimmerpflanze ins Sichtfeld schiebt. Nicht irgendein ordinäres Exemplar natürlich, sondern eine edel marmorierte Dieffenbachia - Naturdesign pur sozusagen.

Mit der Wahl der Tanzdesigner an diesem Abend, den das Nationaltheater Weimar koproduziert, hat der neue Stuttgarter Ballettintendant Tamas Detrich eine gute Wahl getroffen. Die Soziomaterie einer epochalen Zäsur mit Tanzwerkzeugen anzufassen, war eine hervorragende Idee. Und weil die Stuttgarter Tänzer auch ausgefallene Sujets mit Eleganz zu adeln verstehen, ist jedes "Bravo" aus dem Parkett verdient.

© SZ vom 01.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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