Tanz:Mit dem Körper gemalt

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Mario Schröder choreografiert am Leipziger Ballett das Leben von Vincent van Gogh als Revolte gegen die Repression.

Von Dorion Weickmann

Die Frau hockt rücklings zum Publikum. Plötzlich schlingen sich Kinderbeine um ihre Hüften. Ein rothaariger Knabe gleitet aus ihrem Schoß und wandert durch zahllose Hände in die Obhut eines Mannes. Schon gebiert die Frau das nächste, das übernächste Geschwister. Bis eine sechsköpfige Schar an den Hosenbeinen des Vaters klebt. Der lässt die Bibel über ihre Häupter sausen. Gottesfurcht und Gehorsam sind die Werte, die er dem Nachwuchs einbläuen wird. Der Choreograf Mario Schröder, der die gespenstische Gebär- und Brutaufzucht-Episode auf die Bühne des Leipziger Opernhauses setzt, eröffnet damit eine mitreißende "Van Gogh"-Biografie: ein Drama in 15 Stationen.

Schröder, seit 2010 Direktor des Leipziger Balletts, liegt mit dieser Uraufführung im Trend. Von Mauro Bigonzettis "Caravaggio" über Marcos Moraus Picasso-Hommage "Pablo" bis zu Annabelle Lopez Ochoas "Broken Wings"-Epitaph für Frida Kahlo wurden jüngst Maler-Porträts in Serie produziert. Was zeitgenössische Tanz- an den Bildautoren so attraktiv finden, liegt auf der Hand. Seit dem 19. Jahrhundert gilt der Bühnentanz als Bilderbogen, als Abfolge von Szenen, die räumliche und körperliche Architektur verschränken.

Mario Schröder interessiert sich eher für das psychologische Moment des Stoffs. Aber was die erzählerische Verdichtung und optische Auskleidung seiner Motive betrifft, hat sich der Choreograf zu einem souveränen Theaterzauberer entwickelt. Ob narrativ, ob handlungslos - Schröders Entwürfe beflügeln die Fantasie des Zuschauers, weil sie Tanz, Licht, Farbe, Klang und Ausstattung zusammendenken.

Vincent also, der Knabe, aus dem bald ein Kraftbündel von Mann wird, schreitet mit Brüdern und Schwestern durch ein Kindheitsinferno, dessen Feuer der Vater entfacht, ein Geistlicher. Nur Vincent (Oliver Preiß) revoltiert gegen die Repression, weiß dabei aber immerhin den jüngeren Bruder Theo an seiner Seite. Stirn an Stirn lässt Schröder die beiden tanzen, Ausdruck für geteilten Schmerz, geteilte Gedanken. Was immer der Ältere danach versucht, um seine Existenz in halbwegs geordnete Bahnen zu lenken, misslingt. Sein Tanzbiograf gewinnt daraus die fesselndsten Kapitel des Abends.

Anzüge in Mauve, Grasgrün, Lavendel, dazwischen Kostüme mit exaltierten Fotodrucken - die Herrschaften, die diese Mode spazieren führen, tun das in einem White Cube, der mit nichts als leeren Goldrahmen möbliert ist. Ab und zu schlüpft jemand in eines der Rechtecke und stilisiert sich selbst zur Kunstkreatur, mit balletös versteiften Armen und Beinen.

Vincent, Lehrling des Galeristen, scheitert an diesem überkandidelten Habitus, obwohl der Chef ihn unablässig in extravagante Posen zu bugsieren sucht. Vom VIP-bevölkerten Kunstsalon verschlägt es ihn in die Zeichenklasse eines pedantischen Hochschulprofessors. Beide Milieus stehen für van Goghs untaugliche Versuche, einen Broterwerb im Dunstkreis der Boheme zu finden. Hier wie dort soll er sich grotesken Exerzitien unterwerfen - Fortsetzung jener Psycho-Martern, mit denen er von klein auf ins Gefüge der Gesellschaft gepresst wurde.

Dass der Maler dieses Los mit vielen Menschen teilt, ist die Universalie, die Schröder an der Figur interessiert. Selbst in der DDR geboren, startete er 1983 als 18-Jähriger eine Tanzkarriere am Leipziger Opernhaus. Das liegt in unmittelbarer Nachbarschaft der Nikolaikirche, dem Schauplatz der Friedensgebete und Proteste, die den Staat endgültig erodierten. Nach einem Westintermezzo ist Schröder hierher zurückgekehrt, um die Lektion in seinen eigenen Inszenierungen weiterzugeben: "Leistet Widerstand", scheint "Van Gogh" zu sagen - wie davor schon "Lobgesang" (2016) oder "Rachmaninow" (2014).

Während sich die Malklasse, von Vincents Aufsässigkeiten angestachelt, in ein Wespennest verwandelt, öffnet sich die Rückwand des Ateliers. Einsam geht der Künstler hinaus in die Schwärze der Nacht. In die Freiheit, die er sich gegen Vater, Mutter, Ärzte, Lehrer erobert hat. Vom Leben gezeichnet, wird er künftig das Leben mit Wucht auf Leinwände bannen. Dabei verewigt der Pinselstrich die Choreografie der Hand, die Farbe von der Palette auf das Gewebe überträgt. Kein anderer Maler wird ihm darin gleichen.

In Schröders Bebilderung aber bleibt diese Phase im Dasein des Vincent van Gogh seltsam fahrig und konturlos. Zwar musiziert das Gewandhausorchester unter Tobias Engeli bis zuletzt hingebungsvoll ein wundersames Patchwork aus Strawinsky, Bach, Charles Ives. Aber der tänzerische Elan erlahmt.

© SZ vom 07.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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