Tanz:Ausflug ins Paradies

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Aurélie Dupont, die große Primaballerina und Tanzmeisterin der Pariser Opéra, hat den legendären Choreografen Mats Ek zu einem Comeback überredet.

Von Dorion Weickmann

Eigentlich dürfte Aurélie Dupont keinen Fuß mehr auf die Bühne der Pariser Oper setzen. Schließlich hat sich die Starballerina 2015 im vorgeschriebenen Pensionsalter von 42 Jahren von hier verabschiedet. Doch ein paar Monate später warf der Tanzdirektor das Handtuch, und Dupont sah sich auf den Chefposten befördert. Was ihr die Möglichkeit gibt, sich hin und wieder selbst auf den Spielplan zu setzen.

Ihr jüngster Coup ist das Comeback eines 74-jährigen Choreografen. Genau wie Dupont trat Mats Ek 2015 in den Ruhestand. Genug gearbeitet, befand der Schwede, der das tanzdramatische Gen seiner Mutter Birgit Cullberg geerbt, die Theaterprägung aber bei Ingmar Bergman empfangen hat. Ererbtes und Erlerntes steckte er in eine Reihe zeitgenössischer, inzwischen legendärer Klassikerdeutungen von "Giselle" (1982) bis "Julia und Romeo" (2013). Als Rentier scheint sich Ek bald gelangweilt zu haben, und so schlug er ein, als Aurélie Dupont ihm ein exklusives Angebot unterbreitete: ein "Mats Ek"-Abend mit zwei Neuanfertigungen plus Neuauflage der 1992 uraufgeführten "Carmen". Bei der Premiere wurde der Rückkehrer stürmisch gefeiert: Weil seine Kunst frisch geblieben ist und elastisch.

Aurélie Dupont und Stéphane Bullion wandern durch Berg und Tal einer Paarbeziehung und überbrücken die Abgründe zwischen Intimität und Abstoßung.

Das zeigt sich schon in "Carmen", die dank fantastischer Tänzer illustriert, wofür Gender- und Queer-Aktivisten streiten: Was weiblich ist, was männlich und wer wie zu leben hat, entscheidet nicht die Gesellschaft. Wenn Carmen und Don José Arm in Arm flanieren, sie mit Zigarre im Mund, er einen Rosenstrauß schwenkend, ist ihre kleine Welt in Ordnung. Aber jenseits des Paarhorizonts gilt ein Comment, der unvereinbar ist mit der Freiheit, zu lieben wen und wie man will.

Auf den Spuren der Zweisamkeit bewegt sich auch "Another Place". Musikalisch zitiert Mats Ek ein auratisches Vorbild, Frederick Ashtons Version der "Kameliendame". Niemand anders als Margot Fonteyn und Rudolf Nurejew trudelten 1963 zu Franz Liszts h-Moll-Sonate ins Verderben. Weniger Pathos herrscht jetzt in Paris, wo der Pianist Staffan Scheja eine Klangwiese pflanzt, auf der kratzige Disteln wachsen und gelegentlich eine Rose gedeiht. Gerade so wandern Aurélie Dupont und Stéphane Bullion durch Berg und Tal einer Paarbeziehung, treiben einander von der Zärtlichkeit zum Zorn, überbrücken die Abgründe zwischen Intimität und Abstoßung.

Auch Duponts Rückkehr auf die Bühne ist ein Ereignis. Die Tänzerin, deren intensives Spiel an die späte Romy Schneider erinnert, verfügt über seelenvolle Reife, Schutzschicht und Außenhaut eines immer noch sehnsüchtigen Staunens. Der bebrillte Stéphane Bullion - ein Künstler vielleicht, Professor oder Pianist - erweist sich als ebenbürtiges Gegenüber. Er gibt einen Mann mit Eigenschaften, der eines so gut wie nie abreißen lässt: Verständigung und Austausch mit der Frau, deren Leben er teilt.

Die Sprache, die der Choreograf dafür zur Verfügung stellt, ist eigenwillig, präzise und ausdrucksvoll. Der Körper gleitet und federt durch den Raum, spreizt sich fächerartig und bleibt doch gut geerdet. Wo selbst Sprünge lautstark, weil sohlenflach landen, entspinnt sich ein bildgewaltiges Kräftemessen von Mann und Frau: ihr Fuß in seinem Gesicht, sein Fall in den Orchestergraben, ihr Anrennen gegen die VIP-Klause, die er sich mithilfe eines roten Teppichs gebastelt hat, seine Kapitulation beim Blick auf ihren Schoß, beide wie mittelalterliche Büßer kniend im Staub imaginärer Kathedralen. Schließlich ein kurzer Ausflug ins Paradies, ins goldfunkelnde Foyer de la Danse: Da öffnet sich die Rückwand der nackten Bühne, ein Lüster schwebt inmitten historischer Fresken und Stuckaturen - und der Mann hebt seine Frau in den Kristallhimmel. Ein, zwei Sekunden lang. Dann ist der Zauber vorbei.

Mats Ek treibt Maurice Ravels "Bolero" alle Erotik aus.

Wie "Carmen" beschreibt auch "Another Place" eine Beziehung in den Umrissen der Gegenwart: als Arbeit, als Aushandlungsprozess, als Kompromiss. Weder romantisch verbrämt noch pragmatisch kalkuliert, wurzelt sie im Boden einer Liebessoziologie à la Eva Illouz.

An verwunschene Biotope wie die Gärten der Impressionisten in Giverny erinnert die letzte Station des Abends, Maurice Ravels "Boléro". Mats Ek treibt ihm alle Erotik aus. Ein silbrig glitzerndes Bassin steht auf der Bühne und wird von einem Herrn im weißen Anzug emsig befüllt, der Eimer um Eimer Wasser herbeischleppt, während ihn seltsame Geschöpfe beäugen. Allein, zu zweit und im Pulk kreuzen sie seinen Weg: als einbeinig hüpfende oder zierlich trippelnde Kreaturen, geduckte Schleicher oder faustkunstfertige Kampfmaschinen. Natur triumphiert über Kultur, also wird der wackere Gärtnersmann schlussendlich überwältigt - und wirft sich in letzter Sekunde mit lautstarkem Platsch ins Becken. Nicht ohne den Strohhut vorher sorgfältig beiseite gelegt zu haben.

© SZ vom 26.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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