Stimmen von 1917:Kein Schlaf, kein Erwachen

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(Foto: SZ)

Briefe und Tagebücher aus Russland (III): Der Dichter Nikolai Gumiljow und die Journalistin Larissa Reissner sind verliebt, und in Petrograd herrscht eine Hungersnot.

Ende Januar 1917 steht Russland noch immer im Krieg. Die Wut der Soldaten in den Schützengräben wächst mit jeder Woche, und auch in Petrograd, wie Sankt Petersburg im Krieg heißt, zieht sich die Schlinge um den letzten Zaren Nikolaus II. zusammen. Rasputin, der im Volk verhasste und von der Zarin geliebte Wanderprediger, ist inzwischen von einer Fürsten-Verschwörung ermordet worden. Die Monarchie hat noch wenige Tage.

Nikolai Gumiljow und Larissa Reissner aber sind verliebt. Der 30-jährige Gumiljow ist ein bekannter Dichter, Romantiker, Afrika-Abenteurer, Duellant. Nebenbei (und wirklich nur noch nebenbei) ist er mit Anna Achmatowa verheiratet, der wichtigsten Lyrikerin Russlands im 20. Jahrhundert. Sie haben einen Sohn. Anna Achmatowa weiß um Gumiljows zahlreiche Affären, er weiß um die ihren, aber geschieden sind sie noch nicht.

Larissa Reissner, 21, ist Tochter eines Juraprofessors mit deutschen Wurzeln, der in sozialdemokratischen Kreisen verkehrt. Ihr Vater kennt persönlich August Bebel, Karl Liebknecht, Wladimir Lenin. Larissa Reissner wird in der jungen Sowjetunion wichtige Ämter bekleiden, aber noch ist sie vor allem als begabte Journalistin und angehende Dichterin bekannt - und als eine sehr schöne Frau.

Ihr künftiger Chef, Volkskommissar für das Kriegswesen, Leo Trotzki, wird sich mit diesen Worten an sie erinnern: "Diese wunderschöne junge Frau hat viele geblendet und ist wie ein heißer Meteor über den Himmel der Revolution gefegt. Sie hatte das Äußere einer olympischen Göttin, einen feinen, ironischen Geist und den Mut eines Kriegers."

Nikolai Gumiljow an Larissa Reissner. Von der Front, nahe dem lettischen Koknese

Von der Front, nahe dem lettischen Koknese 29. Januar: "Meine Leritschka, Sie sind mir bestimmt böse, ich schreibe Ihnen ja zum ersten Mal, seit ich weg bin. Aber gleich am ersten Tag nach meiner Ankunft bin ich in den Schützengräben gelandet, habe mit einem Maschinengewehr auf die Deutschen geschossen, sie haben auf mich geschossen, und so sind zwei Wochen vergangen. Aus den Schützengräben schreiben, das können nur Graphomanen: Keine Stühle, von der Decke tropft es, auf dem Tisch hocken ein paar riesige Ratten, die verärgert knurren, wenn du dich ihnen näherst. Und ich habe mich tagelang im Schnee gewälzt, auf die Sterne geguckt, die ich in Gedanken miteinander verbunden habe. So habe ich Ihr Gesicht gezeichnet, das vom Himmel auf mich herunterblickt. Großartige Beschäftigung, versuchen Sie es bei Gelegenheit."

Larissa Reissner an Nikolai Gumiljow. In Petrograd

Larissa Reissner an Nikolai Gumiljow In Petrograd 30. Januar: "Wissen Sie noch, wie wir darüber sprachen, dass in Russland eine Renaissance beginnen muss? Ich warte sehr auf Ihr Theaterstück. Wie wird es heißen? Die Form wird bestimmt wunderbar, Sie wissen das selber. Aber vergessen Sie nicht, lieber Hafis (eine Anspielung auf den persischen Dichter, die Red.), die Sixtinische Kapelle ist noch nicht vollendet - da gibt es weder Gott noch Propheten, keine Sibyllen, keinen Adam und keine Eva. Und das Wichtigste: keinen Schlaf und kein Erwachen; keine Helden; keine Siegesgesten - keinen endgültigen Besitz, keine vollkommene Schönheit, nichts von jener kalten, steinernen, abstrakten Schönheit, vor der die Menschen jenes Zeitalters keine Angst hatten, die sie im Gegenteil wagten, auf Augenhöhe zu schätzen. Na gut, leben Sie wohl. Schreiben Sie Ihr Schauspiel und kehren Sie zurück, um Gottes willen."

Nikolai Gumiljow war gleichzeitig in eine andere Frau verliebt, die er nach dem Krieg heiratete. Larissa Reissner macht dies rasend. Später heiratete sie einen Marinekommandanten, kämpfte als Kundschafterin in der Roten Armee und wurde Kommissarin des Generalstabs der Roten Flotte. Sie war mit dem polnischen Sozialisten Karl Radek liiert und wurde Zeugin des Hamburger Aufstandes von 1923, dem sie ein Buch widmete. Sie starb im Alter von 30 Jahren an Typhus, nachdem sie in Moskau ein Glas verdorbene Milch getrunken hatte. Nikolai Gumiljow war bereits 1921 als Mitglied einer angeblichen antisowjetischen Verschwörung erschossen worden.

Anfang Februar 1917, wenige Wochen vor der Februarrevolution, zeichnete sich in Petrograd eine Hungersnot ab. Der Literaturwissenschaftler Wiktor Schklowskij war von der Front zurückgekehrt ("Der Krieg hat unaufmerksam an mir gekaut, wie ein sattes Pferd, dem das Stroh aus dem Maul fällt.") und beschrieb das Geschehen in seinem Tagebuch.

Wiktor Schklowski. In Petrograd

In Petrograd 1. Februar: "Brotmangel, vor dem Brotläden stehen nun Schlangen, am Obwodnij-Kanal werden schon Läden gestürmt, und die Glückspilze, die an Brot gekommen sind, haben es auf dem Weg nach Hause fest umarmt und angesehen, als wären sie verliebt."

Aus dem Russischen von Tim Neshitov

© SZ vom 07.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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