In Notzeiten, wie es sie in den letzten hundert Jahren reichlich gegeben hat, tritt Zukunft als die Hoffnung auf, auch morgen etwas zum Essen oder zum Heizen zu haben, ein kurztaktiges und anspruchsloses Konzept. Wird es besser und geht es bergauf, fasst man Etappenziele für die nächsten Jahre ins Auge, Haus, Auto, Karriere, und in jedem Fall sollen es die Kinder mal besser haben, mindestens die eigenen, vielleicht aber auch die anderer Leute.
Solchen Zielen kann man auch im Verband nachstreben, man kann auf die Verbesserung der Welt im Ganzen hinarbeiten, an Revolutionen oder mindestens Reformen glauben. Zukunft heißt in allen diesen Fällen: das bessere, oder wenigstens das fortgesetzte Leben.
Dabei kann keiner eigentlich daran zweifeln, dass die Zukunft nur eine absolute Gewissheit bereithält, die des eigenen höchstpersönlichen Todes. Aber dieser Kern kann nur zutage treten, wenn die Blütenblätter der Projekteschmiederei von ihm abfallen. "In the long run, we're all dead", rief der Ökonom John Maynard Keynes einmal gereizt aus, als er mit einem dieser Projekteschmiede die Geduld verlor. Diese Einsicht ist schlagend; doch nicht jede Epoche vermag sie auch so zu empfinden.
Die unsrige aber scheint allmählich so weit zu sein. Als ein gutes Zeichen wird man das nicht buchen wollen. Es setzt voraus, dass Stagnation und Isolation zu zentralen Erfahrungen geworden sind: Stagnation herrscht, weil kaum einer mehr ernsthaft damit rechnet, es würde für ihn besser werden, was nicht dem Befund widerspricht, dass Veränderungen auf allen Ebenen sich heute so schnell vollziehen wie noch nie; doch lösen sie eher Angst als freudige Erwartung aus.
Und in Isolation wird es erlebt, weil die einstigen starken Solidarverbände sich auflösen, Kirchen, Klassen, Milieus, selbst die Familie, insofern sie als Ressource fragloser gegenseitiger Unterstützung galt. Da steht kein Trost mehr in der Sichtachse, echter oder falscher, der Blick aufs Ende wird beängstigend frei.
Schwer zu bearbeitender Gegenstand
Auf diese Lage der Dinge, die sich lang angebahnt hat, aber offenbar erst jetzt ihre volle Konsequenz erreicht, reagiert, wie es sich gehört, die zeitgenössische Literatur.
Der Gegenstand ist allerdings nicht ganz leicht zu bearbeiten, viel schwerer als zum Beispiel die Liebe. Zum Gegenstand in engerem Sinn kann der Tod schon deshalb gar nicht werden, weil er die Verneinung aller Gegenständlichkeit bedeutet. In der Schwärze, die er voraussendet, schwächt sich, schon ehe er eintritt, nach und nach Existenz überhaupt und beginnt hinüber ins Nichts zu wehen.
Aus diesem Gradualismus ergibt sich eine einfache Regel für Bücher, die sich der Darstellung des Todes widmen: Sie treffen ihn, wenn sie sich seinem Muster der Sukzession fügen, und er entwischt ihnen, wenn sie ihn zum Zentrum einer gewissermaßen räumlichen Konstruktion machen wollen.
Konstrukteure in diesem Sinn sind Christof Hamann und Jenny Erpenbeck. Hamann (Nur ein Schritt bis zu den Vögeln. Roman, Steidl Verlag, Göttingen) startet, wie man es von Uwe Johnsons "Mutmaßungen über Jakob" her kennt: Aber er ist doch immer über die Gleise gegangen! Simon nämlich, der doch alles hatte, was man sich im Leben wünschen kann, Geld, Erfolg, Einfluss, auch treue Freunde, die jetzt über seinen Tod auf den Eisenbahnschienen rätseln.
Hamanns Buch bietet sich als das unzeitgenössischste dar, indem es den (mutmaßlichen) Suizid nach überkommenem Muster als ein Versagen sei es des Einzelnen, sei es der Gesellschaft deutet, als eine grässliche Option, aber trotzdem als Option - und nicht etwa als den unsinnigen vorauseilenden Gehorsam eines ohnehin sterblichen Wesens, für das der Tod, wenn er kommt, allemal noch zeitig genug kommt.
Jenny Erpenbeck (Aller Tage Abend. Roman. Knaus Verlag, München) entscheidet sich für den Modus des Irrealis, in ihm ist das Buch gedacht und stellenweise auch geschrieben: Was wäre gewesen, wenn dieses Mädchen, Kind jüdischer Eltern in einem osteuropäischen Schtetl, nicht schon wenige Monate nach seiner Geburt wieder im Nichts verschwunden wäre? Dann hätte sie sich vielleicht im Wien des Jahres 1919 aus Liebeskummer umgebracht. Oder wäre 1938 in Stalins Lagern verschwunden. Oder als verdiente DDR-Genossin leider bei einem Treppensturz verunglückt. Oder nach der Wende, hochbetagt und verwirrt, unbemerkt in einem Pflegeheim erloschen.
Doch ist fiktive Literatur ja schon von Haus aus - nun eben, fiktiv, auch ohne dass das ohnehin bloß Vorgestellte sozusagen zum Quadrat erhoben würde. Und dann wäre die Heldin, auch wenn sie wirklich vorher gelebt und alle die Pogrome, Hungersnöte, Säuberungen überlebt haben sollte, inzwischen auf alle Fälle dennoch tot, alle Nebenfiguren desgleichen.