Stalin-Verharmlosung:Verlag C.H. Beck lehnt Buch ab

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"Die Demokratie Canforas den Deutschen verboten", titelt der italienische "Corriere della sera" empört - dabei sind die Urteile des Autors Luciano Canfora zur jüngeren europäischen Geschichte wirklich fragwürdig.

JOHAN SCHLOEMANN

Kommunismus ist nicht verboten. Auch Stalinisten sollten im demokratischen Kontext von der Meinungsfreiheit geschützt sein. Ein Historiker, den man wohl als einen solchen, als einen Stalinisten, ansehen kann oder wenigstens als einen vehementen Verharmloser stalinistischer Politik, konnte sogar während des Zweiten Weltkriegs Leitartikel in der konservativen Londoner Times schreiben, nämlich der Historiker E.H. Carr, Verfasser der vierzehnbändigen "History of Soviet Russia".

Der Mann konnte im englischen Establishment zum nicht unumstrittenen, aber angesehenen Professor und Publizisten avancieren und zugleich in jenem Werk die Mordtaten unter Lenin und Stalin als bloße "Beschlüsse" oder "Reformen" beschönigen.

So viel zur Meinungs- und Pressefreiheit. Um etwas ganz anderes geht es in einem aktuellen Fall, in dem einem renommierten deutschen Verlag Provinzialismus, mangelnde Liberalität und, ja, "Zensur" vorgeworfen wird. Denn in diesem Fall wird nicht verhandelt, was jemand öffentlich sagen darf und was nicht. Vielmehr geht es darum, ob ein Verlag zu dem Entschluss kommen darf, ein Buch, von dem er sich das Urteil gebildet hat, es verharmlose den stalinistischen Terror in unerträglicher Weise, nicht auf den Markt zu bringen.

Was ist geschehen? In einem Bericht über deutsch-italienische Verstimmungen hat die Süddeutsche Zeitung am 10.November 2005 gemeldet, dass der Münchner Verlag C.H. Beck die Publikation eines Buches des italienischen Altertumswissenschaftlers Luciano Canfora abgelehnt hat.

Schwere Vorwürfe

Es handelt sich um ein Werk mit dem geplanten deutschen Titel "Eine kurze Geschichte der Demokratie". Das Buch sollte im Rahmen der Reihe "Europa bauen" erscheinen, die in mehreren europäischen Ländern unter der Gesamtherausgeberschaft des französischen Mediävisten Jacques Le Goff herauskommt; die italienische Ausgabe wurde im März 2004 unter dem Titel "La democrazia. Storia di un' ideologia" im Verlag Laterza veröffentlicht.

Auf den SZ-Bericht hin hat die italienische Tageszeitung Corriere della sera am Dienstag unter der Überschrift "Die Demokratie Canforas den Deutschen verboten" einen Artikel gebracht, in dem der Verleger der italienischen Ausgabe und Luciano Canfora selbst mit schweren Vorwürfen gegen den deutschen Verlag zitiert werden; eine Solidaritätsadresse von Jacques Le Goff an den Autor ist beigefügt.

Der Cheflektor des C.H.Beck-Verlages, Detlef Felken, verteidigt die Entscheidung der Nichtveröffentlichung: man habe sie aufgrund des Manuskripts der deutschen Übersetzung und aufgrund von externen Gutachten, unter anderem von Hans-Ulrich Wehler, getroffen - als Dienst am "verantwortungsbewussten Umgang mit den historischen Tatsachen".

Geradezu empörend

Das Gutachten Wehlers datiert vom 6.Oktober 2005. In der Stellungnahme des Bielefelder Historikers heißt es, bei Canforas Buch, das sich mit dem Begriff und der Geschichte der Demokratie von der Antike bis heute beschäftigt, handele es sich "nicht nur um eine extrem dogmatische Darstellung, sondern um eine so dumme, dass sie an keiner Stelle den Ansprüchen der westlichen Geschichtswissenschaft genügen kann".

Unter anderem monierte Wehler, die Rolle Stalins werde bei Canfora "entgegen der gesamten Forschung ... unglaublich beschönigt", und die Behandlung des Hitler-Stalin-Pakts sei "geradezu empörend". Beck-Lektor Felken selbst stieß sich außerdem, unter anderem, an der Darstellung der Bundesrepublik Deutschland unter Konrad Adenauer.

Luciano Canfora, Professor in Bari, ist ein angesehener Kenner der antiken Geschichte und Literatur und auch der Wissenschaftsgeschichte; zugleich ist er politisch profiliert und immer wieder mit prokommunistischen Stellungnahmen aufgefallen. Nicht als erster Althistoriker wagt er sich mit universalhistorischen oder tagespolitischen Einlassungen über die Fachgrenzen hinaus, man denke nur an Theodor Mommsen, auf den Canfora sich in dieser Hinsicht beruft, oder an den Althistoriker Christian Meier, der ein Buch über die parlamentarische Demokratie geschrieben und sich mit Interventionen etwa zur deutschen Einheit oder zur Goldhagen-Debatte in die öffentliche Debatte eingeschaltet hat.

Ähnlich agiert Canfora - nur eben als Salonkommunist. Der Unterschied ist, dass Canfora jede Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und politischem Engagement ablehnt.

Stalin - ein "guter Realist"

Daraus ergeben sich seine fragwürdigen Urteile zur jüngeren europäischen Geschichte. Die wichtigsten, vom Verlag inkriminierten Stellen in dem von Rita Seuß übersetzten Manuskript, das der S Z vorliegt, seien hier angeführt:

"Im Rückblick war es einfach, den Mythos einer ,Aufteilung' Polens - ein neues Kapitel in der Geschichte der zahlreichen polnischen Teilungen - zwischen Hitler und Stalin zu konstruieren." Anschließend wird Stalin als "guter Realist" beschrieben. Vom Terror ist nicht recht die Rede, Stalins Sowjetunion nennt Canfora ein "Laboratorium, das die zeitgenössische Geschichtsschreibung mit einem gigantischen Straflager gleichzusetzen beliebt".

Zur Bundesrepublik unter Adenauer heißt es: "Tatsächlich war die Bundesrepublik ... ein Land, im dem ein wirklicher Neuanfang ... durch den Geist des Revanchismus, wenn nicht des unverhüllten Nazismus vereitelt wurde. Diese alte Geisteshaltung wurde mit derselben Unbekümmertheit akzeptiert und protegiert, mit der an einem anderen Schauplatz, aber mit ähnlichen Zielen die faschistischen Regime der iberischen Halbinsel ins ,transatlantische' Bündnis eingegliedert wurden."

Dass ein Verlag so ein Buch in der Reihe "Europa bauen" nicht drucken will, ist kein Skandal, sondern verdient jede Unterstützung. Der Vorwurf, zu spät auf den Charakter von Canforas Buch - seine Auffassungen sind in Italien lange bekannt - aufmerksam geworden zu sein, mag jetzt einige vertragliche Schwierigkeiten bringen, ist dem Verlag aber nicht anzulasten, da solche Buchreihen gewissermaßen Paketlösungen sind, bei denen man sich im Vorlauf auch auf das Urteil eines angesehenen Herausgebers wie Jacques Le Goff verlässt.

Canfora selbst aber hat am Mittwoch seine Vorwürfe gegen C.H. Beck gegenüber der Süddeutschen Zeitung erneuert und erweitert. Er sprach von "Zensur", und die sei "das schlechteste Mittel, um kulturelle Beziehungen zwischen Italien und Deutschland zu fördern". Als Grund für die Unterdrückung seines Manuskripts vermutet er "externe Einflüsse" und sagt allen Ernstes: "Ich weiß nicht, ob Beck mit politischen Persönlichkeiten in Kontakt ist - aber gut möglich ist es."

Auf den Vorwurf, das sowjetische Massaker im polnischen Katyn in seiner Darstellung nicht erwähnt zu haben, sagt er: "Was hat Katyn in einer Geschichte der Demokratie zu suchen?" Dazu muss man wissen, dass er in dem Buch detailliert auf die Geschichte der osteuropäischen Länder eingeht - die er, mit Anführungszeichen, nur "Volksdemokratien" nennt. Für ihn wäre es "nicht korrekt", wenn das Buch in einem anderen Verlag publiziert würde. Der Verlag habe das Buch einmal gebilligt, nun müssten die entsprechenden Verträge eingehalten werden.

© SZ vom 17.11.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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