Stadtplanung:Das Potsdam-Paradox

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Die komplette Rekonstruktion einer Stadt nach historischem Vorbild freut die einen und ärgert die anderen: eine weltweite Streitfrage.

Von Till Briegleb

Der Wiederaufbau des Alten Markts in Potsdam berührt ein altes philosophisches Problem, das als Theseus-Paradox bekannt wurde. Der griechische Held soll an seinem Schiff im Lauf der Zeit nahezu alle Teile ausgewechselt haben und nun stritten sich die antiken Denker, ob das Gefährt schlussendlich noch dasselbe sei.

Diese kniffelige Frage nach der Identität einer Sache hat nirgends so große Bedeutung erlangt wie im Denkmalschutz, speziell dort, wo es um die Rekonstruktion verlorener Bauwerke geht. Und da es nur wenige Orte in der Welt gibt, die mit einer derartigen Begeisterung verschwundene Architekturerzeugnisse neu erbauen wie Potsdam, stellt sich hier natürlich exemplarisch die Frage, welche Identität besitzt das alte Zentrum der Stadt eigentlich, das in den nächsten Jahren weiter im Stil alter Fassaden fortentwickelt werden soll?

Nach zwei Weltkriegen und dem Dynamit-Krieg der SED gegen die preußische Vergangenheit existierten von dem alten Stadtzentrum nämlich nur noch Krümel originaler Bausubstanz. Trotzdem sieht Potsdams Theseus-Schiff heute aus, als könnte man zwischen Stadtschloss, Altem Rathaus und Nikolaikirche peitschenknallende Kutscher erwarten, die ihre Berlinen übers Pflaster klappern lassen, gekreuzt von Stechschrittformationen in Preußisch-Blau. Gestört wird diese romantische Illusion nur von den vielen Schulklassen und Reisegruppen mit hochgereckten Smartphones, die daran erinnern, dass im Zeitalter des Massentourismus das Bild einer Sache wichtiger ist als das Wissen darüber.

Tatsächlich ist es für jedes ungeübte Auge schier unmöglich, den Alten Markt für das Neubau-Ensemble zu halten, das er ist. Fast alle Gebäude hier wurden nach 1945 errichtet, die Prachtbauten mehr oder weniger originalgetreu und anfänglich noch unter Verwendung von Ruinenresten. Wäre da nicht die "Schmuddelecke" mit DDR-Architektur, der Platz präsentierte sich einfach nur schön wie die Stadtmitte einer europäischen Residenz, die vom Bombenkrieg verschont wurde.

Es geht nicht nur um einen Schönheitswettbewerb. Es geht auch um Gentrifizierung

Aber das "Institut für Lehrerbildung" am Platzrand, das zuletzt von der Fachhochschule genutzt wurde, ist ein lokaler Streitfall, der beispielhaft steht für die Widersprüche, die Reproduktionen urbaner Träume im Denkmalkleid produzieren. Nach dem Willen der Stadtregierung soll dieser ostmoderne Stelzenbau mit seiner gelben Modulfassade beseitigt werden für Investorenprojekte mit retrospektiven Schmuckfassaden. Eine Bürgerinitiative will das Gebäude dagegen als Zeugnis der wechselhaften Stadtgeschichte bewahren und als Kulturzentrum nutzen.

Was hier exemplarisch ausgefochten wird, ist nicht nur ein Schönheitswettbewerb um die Frage, ob das neu erschaffene Stadtbild des 19. Jahrhunderts nicht viel attraktiver sei ohne die ostmoderne Narbe. Vielmehr geht es hier um das Konfliktpotenzial der Gentrifizierung, also den Umbau der Stadt nach den Vorstellungen der Wohlhabenden. Die Sanierung nach Prämissen von "Schönheit" führt nämlich fast überall dazu, dass gebaute Erinnerungen der Ansässigen verschwinden für Renditeobjekte, die sich nur Gutverdiener leisten.

In dieser Sichtweise folgt das beschauliche Potsdam einer globalen Tendenz der Stadterneuerung, wie man sie in Extremform in China erlebt. Traditionelle Quartiere werden dort blockweise ausgelöscht, um an ihrer Stelle verschlossene Appartementhochhäuser für Reiche zu errichten, die ihre "Schönheit" in einem protzigen Historismus ausleben: Art-Déco-Stil neben Bauhaus-Moderne, chinesisches Pagodenimitat neben Monumentalklassizismus.

Diese einseitige Kahlschlagssanierung, wie sie sich auch in Russland oder vielen osteuropäischen Ländern findet, zerstört rücksichtslos bedeutende Episoden der Stadtgeschichte und funktionierende Nachbarschaften einfacher Leute für eine demonstrative Ästhetik des Wohlstands. Als Ersatz für den Identitätsverlust werden dann Schiffe des Theseus für Touristen neu gebaut - in China etwa die "Alt"-stadt von Datong, die komplett im Pseudo-Ming-Stil gestaltet wird, nachdem 40 000 Bewohner vertrieben wurden.

Trotzdem ist der Traum von der schönen alten Urbanität, der in Potsdam so intensiv gelebt wird, nicht nur eine Wohlfühltäuschung schamloser Investoren. Die Schrecken moderner Architektur, die nach ihrer fruchtbaren Phase in den Zwanzigern den Planeten mit serieller Monotonie zum Schlechten umgestaltet hat, befeuert verständliche Sehnsüchte. Der Wunsch nach der handwerklich gestalteten Geborgenheit des Alten und seiner dekorativen Vielfalt ist emotional absolut verständlich, zumal in Ländern des Plattenbaus.

Deutschland ist international sicherlich das ambitionierteste Land auf diesem Baufeld mit seinen Schlossreproduktionen in Berlin, Potsdam, Braunschweig oder Hannover, mit den Rekonstruktionen alter Stadtanlagen wie in Dresden, Lübeck oder am Frankfurter Römer. Aber auch andere europäische Länder neigen zur Wiederherstellung ihres Erbes. Das Russland Putins erzeugte zuletzt diverse Replikate von Kirchen, etwa die Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Schmerzlich vermisste Symbolbauten wurden in den vergangenen Jahren in vielen europäischen Städten zurückgebracht, so das "Schwarzhäupterhaus" in Riga, die Brücke von Mostar in Bosnien-Herzegowina, das Teatro La Fenice in Venedig. Und in Nijmegen soll 2018 mit dem Wiederaufbau des einst stadtprägenden Valkhofes begonnen werden, obwohl die alte Königspfalz bereits im 18. Jahrhundert geschliffen wurde.

Mit dem Wiederherstellen eines ganzen Stadtensembles im Stil der Vergangenheit, wie es Potsdam so energisch vorantreibt, steht Deutschland in Europa aber ziemlich alleine da. Seit die im Krieg komplett zerstörten Altstädte in Warschau, Danzig und Breslau von polnischen Wiederbelebungsspezialisten in liebevoller Detailarbeit noch einmal gebaut wurden, haben europäische Städte kaum noch große Ensembles rekonstruiert.

Zwar ließ Prince Charles im englischen Poundbury ein Dorf im Stil seiner Vorväter produzieren, und im Zuge der New-Urbanism-Bewegung, die alte Qualitäten der europäischen Stadt zurückgewinnen wollte, wurden viele dichte Stadtviertel im Als-Ob-Stil der Postmoderne geplant. Aber echte Schiffe des Theseus, die original aussehen, obwohl nichts an ihnen mehr original ist, die gibt es frisch von der Werft so nur in China und der ehemaligen DDR. Man darf also heute von einem Potsdam-Paradox sprechen, wenn sich die Frage stellt, welche Identität besitzen historische Reproduktionen von Stadt.

Die Philosophie konnte ihr Paradox bisher nicht lösen. Biologisch wäre es einfach zu beantworten, denn auch der Mensch hat innerhalb weniger Wochen fast alle Körperzellen gegen neue ausgetauscht und ist immer noch derselbe. Aber was wird der Alte Markt in Potsdam sein, falls der Rückbau ins kaiserliche Preußen vollendet wird? Denkmal oder Disneyland, Vorbild oder Fake News? Diese Frage wird die Philosophie der Stadtplanung sicher noch länger beschäftigen.

© SZ vom 28.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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