Spurensuche:Lügen und Legenden

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Andreas Maier, Jahrgang 1967. (Foto: imago/STAR-MEDIA)

In seinem Roman "Die Familie" erschüttert Andreas Maier sein eigenes autobiografisches Projekt "Ortsumgehung".

Von Jörg Magenau

Wer über Familie schreibt, schreibt für gewöhnlich den Anna-Karenina-Satz, dass alle glücklichen Familien einander gleichen, die unglücklichen aber auf ihre eigene Weise unglücklich sind. Wie das bei derartigen Weisheiten üblich ist, wird der Satz dadurch wahr, dass er bis zur Besinnungslosigkeit wiederholt wird. Richtiger wird er dadurch aber nicht. Auch familiäres Unglück kann typisch sein, generationsspezifisch oder gar im Kontext der Nationalgeschichte zu lesen.

Das ist Bedingung und Voraussetzung der großen Familienaufstellung, die Andreas Maier in seinem autobiografischen Romanprojekt "Ortsumgehung" vornimmt und von Band zu Band weiter vorantreibt. Wäre diese Familie und damit auch Andreas Maier selbst nicht in irgendeiner Weise typisch, dann müsste man sich mit seiner Privatangelegenheit und seinem Familienunglück auch nicht weiter befassen. Weil aber das Unglück dieser Familie dem vieler anderer Familien gleicht, erzählt er nebenbei die Geschichte des Landes aus der Perspektive der hessischen Wetterau zwischen Friedberg und Bad Nauheim.

Als Andreas Maier 2010 den schmalen Roman "Das Zimmer" vorlegte, wusste er schon, dass darauf noch zehn weitere autobiografische Bände folgen würden. Auch die Titel hatte er bereits festgelegt. In konzentrischen Kreisen erweiterte er von Band zu Band seinen Bewegungsspielraum, vom Zimmer zum Haus zur Straße zum Ort, und in jedem Band gerieten andere Figuren der Maier'schen Familienkonstellation in den Blick: Mal war es der debile Onkel J., dann die Schwester mit ihrem amerikanischen Freund, mal die Mutter mit ihrem ungestillten Bedürfnis nach "Geistigem" oder der Vater mit seinen Migräneattacken. Dabei war Maiers Familienforschung immer auch eine Selbstanalyse, eine genaue Beobachtung, wie die eigene Person in ihrer Umwelt wächst und wird.

"Aus meiner Herkunft habe ich ein metaphysisches Konstrukt gemacht."

Zuletzt war er den Zwängen der Herkunft einigermaßen entkommen, hatte sich an der Universität in Frankfurt eingeschrieben und ein eigenes Zimmer mit Matratze bezogen. Der neue, siebte Band heißt nun allerdings "Die Familie". Darin kehrt Maier überraschenderweise noch einmal an den Ausgangspunkt zurück, um die Topografie seiner Kindheitslandschaft neu auszumessen. Warum er das tut, erschließt sich erst vom Ende aus. Das riesige Grundstück in Friedberg mit seinen Obstbäumen, der alten Mühle, dem ehemaligen Steinmetzbetrieb und dem neu gebauten Elternhaus ist zunächst eine mythische, idyllische Kindheitswelt mit Apfelbäumen und Apfelwein.

Doch die Idylle trog schon damals. Bereits das Kind Andreas kann die juristischen Verhältnisse aufsagen, die eine andere Sprache sprechen. Welche Parzelle gehört der Mutter, welche Onkel Heinz und welche Onkel J.? Warum gehört die Firma der Mutter? Die Besitzverhältnisse sind wesentlich, weil sie auch die Verhältnisse zwischen den Familienmitgliedern prägen. Aber es dauert lange, bis Andreas und seinem Bruder als Heranwachsenden endlich klar wird, dass Onkel Heinz nicht eines Tages "komisch" geworden ist, wie die innerfamiliäre Sprachregelung lautete, sondern dass die Mutter ihn beim Erbe stillschweigend übervorteilt hat.

Wie darüber gesprochen beziehungsweise eben nicht gesprochen wird, wie aus Schweigen Lügen und aus Lügen Legenden werden, darum geht es nun im Roman "Die Familie". Die entscheidenden Sätze spricht dabei der fünf Jahre älterer Bruder: "Es ist in einer Familie wie unserer völlig egal, was du mit eigenen Augen gesehen hast. Es ist egal, wie es dir vorkommt, was du mit eigenen Augen gesehen hast. Eigene Augen sind keine Kategorie."

Was sie als Kinder vom Dachfenster des Elternhauses gesehen haben, war ein Bagger, der eines Abends die Mühle umrundete und mit der Schaufel zum Einsturz brachte. Dieser kalte Abriss des denkmalgeschützten und deshalb unverkäuflichen Gebäudes durfte jedoch nicht als solcher bezeichnet werden, sondern musste als Unfall bei der Dachsanierung erscheinen. Eine jahrelange gerichtliche Auseinandersetzung schloss sich an, die Maiers juristisch versierter Vater schließlich gewann. Das, was die Kinder gesehen hatten, durften sie so nie aussprechen, und die Eltern sprachen auch zu Hause in der offiziellen Sprachregelung wie vor Gericht. Andreas nimmt sie als Avatare wahr, als Schablonen ihrer selbst, die in einer künstlichen Scheinwelt agieren, bis er schließlich sogar an sich selbst zweifelt.

Das Ende schockiert, man müsste auch die früheren Bände noch einmal lesen

Die eigentliche Pointe des Buches aber führt noch weiter zurück in die Familiengeschichte bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie betrifft die Firma des Urgroßvaters, das Grundstück und die Herkunft des Familienvermögens. Auch diese unschöne Geschichte, die mit einstmals jüdischem Besitz zu tun hat, wurde in der Familienhistorie durch angenehmere Wahrheiten ersetzt und also verleugnet. So wird aus Andreas Maiers "Die Familie" eine exemplarische deutsche Schweige-Geschichte. Doch Maiers eigentliche, verstörende Entdeckung besteht darin, dass auch seine Generation - er ist 1967 geboren -, die glaubte, in eine kritische Aufarbeitungshaltung hineingewachsen zu sein, mehr elterliches Schweigen, Leerstellen, Mythen und Legenden übernommen hat, als sie ahnte. "Wir sind die Kinder der Schweigekinder", heißt es da.

Für den Erzähler Andreas Maier hat das fatale Konsequenzen. Nicht nur er als Person, sondern sein ganzes Schreiben steht plötzlich zur Disposition. Der Gestus des Aufklärenwollens, des Die-Eltern-zum-Reden-Zwingens ist immer noch Teil der Schweige- und Verdrängungsspirale, und Maier ahnt mit Entsetzen, dass er "die ganze Zeit Nachkriegsliteratur" geschrieben hat, ohne es zu merken: "Entschuldungsliteratur. Ich! Aus meiner Herkunft habe ich ein metaphysisches Konstrukt gemacht. Und es hat so gut funktioniert!" Um zu dieser Erkenntnis vorzudringen, musste Andreas Maier noch einmal an den Ausgangspunkt seines Unternehmens zurück. Von hier aus bekommt die eigene Kindheit eine andere, beängstigende Dimension.

"Die Familie" ist keine fiktionale Geschichte. Was Maier schreibt ist ja alles "wahr". All seine Figuren gibt es "wirklich" - natürlich wie immer unter dem Vorbehalt, dass das Erzählen jede Wirklichkeit in eine Fiktion verwandelt. Das erweist sich hier nun aber keineswegs als befreiender schriftstellerischer Akt, sondern als vertrackte Fortschreibung der Familiengeschichte, in der die innerfamiliären Legenden das Schweigen und die Lüge bemänteln. Dass er selber diesen Zusammenhängen auf den Leim gegangen ist - das ist Maiers selbstkritische Schlussfolgerung. Er erkennt, den familiären Voraussetzungen des eigenen Erzählens gegenüber immer noch zu gutgläubig gewesen zu sein.

Maiers Stärke ist stets das Ineinander von erzählerischen und essayistischen Passagen. Beschreibung und Analyse gehören bei ihm zusammen. Reflexive Elemente boten jedoch als Distanzierungsmittel zugleich einen Rückzugsraum. Der fällt nun weg, wenn Maier erkennen muss, dass die Familiengeschichte, wie auch er sie kolportierte, auf falschen Voraussetzungen beruhte. Wer sind wir also wirklich? Wo können wir uns positionieren, wenn jede Wahrheit, auf der wir bauen, auf einer Unwahrheit basiert?

Literarisch wirkt der Roman "Die Familie" in der bloßen Wiedergabe der Gespräche von einst gelegentlich allzu kunstlos, bloß dokumentarisch, und scheint der bisher schwächste Part der "Ortsumgehung" zu sein. Vom schockierenden Ende her gelesen hat dieses Buch aber seine Notwendigkeit, indem es die Voraussetzungen des ganzen autobiografischen Projektes erschüttert. Von hier aus müsste man auch die früheren Bände noch einmal mit anderen Augen lesen und darf gespannt sein, wie Maier in den jetzt noch ausstehenden Bänden die Schweigespirale durchbricht.

Andreas Maier: Die Familie. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 166 Seiten, 20 Euro.

© SZ vom 24.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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