Spurensuche:Karl Marx und die Gelassenheit des Ministers

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120 000 Aktien zu je 500 Francs gab die Société du Crédit Mobilier aus. (Foto: citeco)

Die Welt verändert sich ständig, nicht aber die großen Fragen. Wir suchen nach wiederkehrenden Motiven. Wollten Deutsche Bank und Commerzbank fusionieren, weil sie eines Ursprungs sind?

Von Lothar Müller

Die Deutsche Bank ist älter als das Deutsche Reich. Aber als sie 1870 gegründet wurde, war in ihrem Namen der Anspruch gesetzt, als Akteur des künftigen Nationalstaats, also international zu agieren. Ebenfalls im Jahr 1870 wurde die Commerzbank gegründet. Beide folgten dem selben Modell, der 1852 von den Brüdern Émile und Isaac Pereire in Paris gegründeten "Société Générale du Crédit mobilier". Sie trug ihr Hauptziel, die Kreditfinanzierung, im Titel, und sie forderte als eine Frühform der Aktienbank die traditionellen Privatbanken vom Typ Rothschild heraus. Die "Crédit mobilier" passte das Bankenwesen an den Kapitalbedarf der Zeitalters der Maschinerie und großen Industrie an und beförderte Spekulationsgeschäfte im großen Stil.

Wenn jetzt der deutsche Finanzminister Olaf Scholz nach dem Scheitern der Fusion von Deutscher Bank und Commerzbank, zu Protokoll gibt: "Die global agierende deutsche Industrie braucht konkurrenzfähige Kreditinstitute, die sie in aller Welt begleiten können", greift er auf ein Argumentationsmuster zurück, das schon die Gründung der beiden Banken begleitet hat. Und ihre jüngere Geschichte ähnelt den Auf- und Abstiegskurven des Urmodells, des "Crédit mobilier".

In dessen Geschichte spielen nicht nur die Industriefinanzierung - vor allem im Eisenbahnbau - und Spekulationsgeschäfte mit Staatspapieren eine große Rolle, sondern auch immer neue Allianzen mit dem Staat. Die Brüder Pereire und Louis Napoléon, der sich Anfang Dezember 1851 mit seinem Staatsstreich zum neuen Kaiser der Franzosen deklarierte, waren Bundesgenossen. Der Aufstieg des "Crédit mobilier" war Bestandteil der Entfaltung des Second Empire.

Kein damaliger Wirtschaftsjournalist hat die Geschäftsidee des "Crédit mobilier" aufmerksamer verfolgt und kommentiert als Karl Marx als Europakorrespondent der New York Daily Tribune. Er hatte eine feine Witterung für das Krisenpotential des Kapitalismus, er analysierte die Risiken des "Crédit mobilier" für die privaten Shareholder wie für den Staat.

Mit fünfzehn Prozent ist der deutsche Staat an der Commerzbank beteiligt. Er ist also mehr als Zuschauer der geplatzten Bankenfusion. Olaf Scholz ist demonstrativ gelassen. Die Wochenendlektüre der Artikel von Marx über den "Crédit mobilier" könnte das ändern. Auch wenn er natürlich alles andere als ein Louis Napoléon ist.

© SZ vom 27.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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