Spätwerk:Ein Stückchen Glut

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Philippe Jaccottet: Die wenigen Geräusche. Späte Gedichte und Prosa. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Hanser Verlag, München 2020. 160 Seiten, 23 Euro. (Foto: N/A)

Spätsommerlich, menschenleer: Späte Prosa des französisch-schweizerischen Dichters Philippe Jaccottet.

Von Tobias Lehmkuhl

Menschen wird man in "Die wenigen Geräusche" von Philippe Jaccottet vergeblich suchen. Menschen sind fraglos zu grob und zu laut, um Einlass zu finden in die feinnervigen Skizzen des inzwischen bald 95-jährigen französisch-schweizerischen Autors. Stattdessen schießt ein Eisvogel durch seine Prosa, ein kleines entflammtes Wunder, das im "Käfig der Worte" jedoch schnell zu sterben droht. Kaum aufgetaucht also ist dieser Eisvogel gleich wieder entschwunden, genau wie das Rotkehlchen, ein Nichts geradezu, oder doch nicht mehr als "ein Stückchen Glut".

Einen Menschen findet man in "Die wenigen Geräusche" nur indirekt, als Beobachter an den Grenzen der Wahrnehmung, einen, der dort, wo andere nichts mehr hören oder sehen, noch etwas auszumachen meint, einen, für den die Wolken mehr Gewicht haben als jeder Wolkenkratzer.

Weltabgewandt, so könnte man meinen, ist diese lyrische Prosa, die seit bald sieben Jahrzehnten im idyllischen Weiler Grignan in der Provence entsteht, aber was ist dann Welt? Flüchtlingsströme, Klimakatastrophen, Beziehungsprobleme sind es für Jaccottet auf jeden Fall nicht. Es ist dieses Nichts oder Fast-Nichts, es sind jene Schwellenmomente, die für ihn entscheidend sind.

Momente, in denen sich Welt überhaupt erst öffnet - oder in denen sie sich schließt und im Zweifelsfall wenig zurücklässt, einen winzigen Abdruck in der Erinnerung, eine Tatzenspur höchstens, wie die der Katze, "deren Tage wir beenden mussten: die vollkommene Stille ihrer Schritte, wo immer sie auch hinging - Vorüberhuschen eines hellen Schattens, für uns halb abwesend, wie einem friedlichen Traum entsprungen, ihre nur seltenen Schreie, und diese in letzter Zeit immer kürzer und schwächer. Eine kleine Seele in Pelzpantoffeln, nicht viel, aber dennoch."

Eine Handvoll Notizen in "Die wenigen Geräusche" sind anderen Schriftstellern gewidmet, Franz Kafka etwa, der, so erklärt Jaccottet, einer von jenen Schriftstellern sei, die jeden beschämten, der nach ihnen noch schreibt, oder Peter Handke, ein "geschichtsloser Beobachter", in dem er einen Wahlverwandten erkennt.

Die von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz makellos übersetzten Stücke lassen sich immer wieder als Meditationen über das Alter lesen, als letzte Fragen auch an das eigene Werk, das, wie Jaccottet schreibt, zwar den "Anschein von Offenbarung" mit sich trage, aber eben ohne Drogen, Askese, ohne Exzess oder Ekstase zustande gekommen sei: "Vielleicht gesteht man dadurch den fehlenden Ernst von alldem."

So ist denn auch der mögliche Vorwurf entkräftet, in Jaccottets Werk würde die Natur zur Religion erhoben. In der Tat geht seinen Sätzen alles Gebetshafte ab. Weder eitel noch betulich ist diese Prosa, eher karg und ausgebrannt wie die Felder der Provence im Spätsommer. Eine Prosa in Pelzpantoffeln: Nicht viel, aber dennoch.

© SZ vom 30.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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