Spätphase des Impressionismus:Ich, ein echter Wilder

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Dorfszenen wie hier das Viertel Saint-Michel in Bougival hat Maurice de Vlaminck fast bedrohlich inszeniert. (Foto: Maurice de Vlaminck, Sammlung Hasso Plattner, VG Bild-Kunst, Bonn 2020)

Maurice de Vlaminck wurde nur durch Zufall Maler. Seine Werke wurden dem Fauvismus zugerechnet, und er war im Gegensatz zu anderen stolz darauf. Später geriet er in Vergessenheit.

Von Sandra Danicke

Eine Dorfstraße mit schlichten Häusern, ein Mann läuft entlang. Das Motiv ist simpel. Doch je länger man sich in das Bild vertieft, das Maurice de Vlaminck 1911 gemalt hat, desto stärker gewinnt man das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Häuser und Zäune wirken verzerrt. Die Bäume sind mit heftigen Pinselhieben auf die Leinwand geworfen, leuchtende Farben stehen nebeneinander. Erstaunlich, wie roh und wild eine Dorfidylle anmuten kann. Nicht zu Unrecht hielt sich der Maler für den "allerechtesten unter den Wilden". Eine Zeit lang war er das wohl.

"Was ist der Fauvismus?", fragte Vlaminck in einem seiner zahlreichen Texte rhetorisch. Die Antwort lautete: "Das bin ich. Das ist meine Manier jener Zeit, meine Art aufzubegehren und mich zugleich zu befreien: keine Schule, keine Bildung gelten - nur meine blauen, meine gelben, meine reinen Farben, ganz unvermischt." Maurice de Vlaminck mangelte es nicht an Selbstbewusstsein. Dabei ist es einem Zufall zu verdanken, dass er als Maler reüssierte. Mit 16 Jahren verließ Vlaminck, der 1876 in Paris in eine Musiklehrerfamilie hineingeboren wurde, als ausgebildeter Kontrabassist sein Elternhaus und zog nach Chatou bei Versailles. Er war bitterarm. Abends fuhr er mit der Geige unter dem Arm in die Pariser Vororte, wo er in den Gaststätten spielte. Außerdem gab er Stunden als Geigenlehrer, denn bereits mit zwanzig Jahren hatte er zwei Töchter zu versorgen. Nebenbei schrieb er Prosa und Gedichte. Manchmal trat er auch als bezahlter Ringkämpfer im Zirkus auf, betätigte sich als Radsportler oder nahm an Ruderwettbewerben auf der Seine teil. Dass Vlaminck ausgerechnet mit der Malerei berühmt werden würde, damit war nicht zu rechnen. Schuld war ein Zugunglück.

1900 lernte Vlaminck, der zu dieser Zeit seit drei Jahren beim Militär diente, in seinem Urlaub den Künstler André Derain kennen. Die beiden wollten mit dem Zug von Paris nach Chatou, doch das Fahrzeug entgleiste. Die zwei Männer gingen den Weg gemeinsam zu Fuß - und wurden Freunde. Bald darauf mieteten sie ein Atelier, besuchten Ausstellungen, etwa die von Vincent van Gogh in der Galerie Bernheim-Jeune, und diskutierten die Probleme der brandneuen Malerei, die den Impressionismus auf ungestüme Art ins Extrem trieb. Die emotionale Aufladung der Farbe war das Thema, das Vlaminck am meisten umtrieb. Derain führte den Autodidakten in den Kreis der jungen Pariser Maler um Henri Matisse ein - und Vlaminck konnte sich mit seiner radikalen Malweise behaupten. Später nannte man ihn den Expressionisten unter den Franzosen.

Der Maler fand, dass Schule und Akademie die Persönlichkeit zerstören

1905 stellte er zusammen mit Matisse, Derain und anderen im "Salon d'Automne" aus. Sie wurden verspottet. Der konservative Kritiker Louis Vauxcelles verhöhnte die Künstler, die ihre Farben so ungeniert als individuelles Ausdrucksmerkmal einsetzten, als "Fauves", Wilde. Vlaminck war der Einzige unter ihnen, der sich mit diesem Attribut voll und ganz identifizierte.

Einige Kenner waren verzückt. Der Kunsthändler Ambroise Vollard war so begeistert, dass er Vlaminck sämtliche Werke abkaufte und dem Künstler seine erste Einzelausstellung ausrichtete. Vlaminck kaufte sich ein Häuschen im Grünen.

Es war damals nur noch ein kleiner Schritt bis zur Abstraktion, die meisten gingen ihn. Vlaminck war strikt dagegen. Der Kubismus, mit dem einige der Fauves kokettierten, war für ihn "eine Art Seuche". Vlaminck ging es stets um das Objekt in seiner ganzen Dichte und Wahrhaftigkeit, und es mag sein, dass der Maler deshalb heute allenfalls Kennern ein Begriff ist.

Vlaminck war stets stolz darauf, keine Kunstakademie besucht zu haben. "Die Schule und Akademie sind Korrektionsanstalten und zerstören die originale Persönlichkeit zugunsten eines Kunsttyps", befand er. Dass er seine Malerei ganz aus sich selbst heraus entwickelt hat, wie er häufig betonte, ist jedoch nicht wahr. Vlaminck stützte sich auf Vorbilder. War er zunächst stark von van Gogh beeinflusst, ließ er sich in den kommenden Jahren von Paul Cézanne inspirieren: Aus einzeln nebeneinandergesetzten Pinselstrichen wurden erst Strichbündel, dann Flächen, die den Bildern einen rhythmisierten Aufbau und eine größere Tiefe verleihen. Mit den Jahren begann er die Farbtöne zu mischen. Statt Primärfarben dominierten nun Grau- und Ockertöne, mit denen er eine reichere und subtilere Farbpalette erreichte. Deutlich wird das im 1913 entstandenen "Stadtviertel Saint-Michel, Bougival", einer komplex verschachtelten Komposition, die den beunruhigenden Eindruck von Instabilität erweckt und als Vorahnung des drohenden Krieges gelesen werden kann.

Die Orte Chatou und Bougival sind auch als Zitate zu verstehen. Hier hatten die Impressionisten zahlreiche Bilder gemalt, etwa das um 1875 entstandene Werk "Die Brücke von Chatou" oder den "Tanz in Bougival" (1883), beide von Pierre-Auguste Renoir, auf den Vlaminck in einigen seiner Gemälde anspielte. Während Renoirs Werke jedoch Leichtigkeit und Flüchtigkeit zelebrieren, verlieh Vlaminck seinen Motiven stets eine monumentale Schwere.

Ab 1914 wurde Vlaminck für vier Jahre zum Kriegsdienst einberufen. Man setzte ihn als technischen Zeichner, dann als Granatendreher in einer Munitionsfabrik ein. Nach seiner Entlassung richtete er sich in Paris ein kleines Atelier auf dem Montparnasse ein, wo er sich auf die nächste Ausstellung vorbereitete, die 1919 in der Galerie Druet stattfand - die Schau war ein voller Erfolg. Noch im selben Jahr kaufte sich der Künstler in Valmondois ein Haus auf dem Land, wo er seinen Stil als Landschaftsmaler weiterentwickelte. Auch als er 1925 auf ein Bauerngut in der Nähe von Paris umzog, blieb er der Landschaft eng verbunden. Alles, was sein Haus umgab, entzückte ihn: die Getreidefelder, der Kleeacker, die Kühe. 1958 starb der Künstler. Danach wurde er von vielen vergessen.

© SZ vom 04.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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