Serie: Am Wasser:Jesus am Genfer See

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Eine neue Sommerserie besucht Strände in der Kunst und der Wirklichkeit. Teil I: Warum der Maler Konrad Witz schon im 15. Jahrhundert das erste realistische Landschaftsgemälde erschuf

Von Gottfried Knapp

"Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss", sagt Heraklit, damit hatte das Wasser seinen Ruf als ewig wandelbares Element weg. Aber was ist mit dem Ufer? Dem Strand? Den schattigen Rändern der Seen? Auch da kann von Beständigkeit keine Rede sein. Einst zogen diese Orte des Übergangs Maler über Jahre in den Bann. Heute sind manche damaligen Traumstrände begraben unter Bauunfällen und Sonnenmuscheln. Für unsere Sommerserie sind wir ans Wasser gefahren, um zu sehen, was die Zeit mit diesem ergiebigen Nebenarm der Landschaftsmalerei angestellt hat. Den Auftakt macht ein Text über Konrad Witz, der in seinem Petrus-Altar den Genfer See abgebildet hat.

Die früheste räumlich überzeugende Ansicht einer real existierenden Uferlandschaft findet sich nicht in den Bildern englischer Landschaftsmaler des 18. Jahrhunderts oder in den Skizzenbüchern deutscher Romantiker, die Italien bereisten, sondern auf einem mittelalterlichen Altarbild, das zu einer Zeit gemalt wurde, als religiöse Themen noch auf Goldgrund zelebriert, also der irdischen Realität möglichst weit entzogen wurden. Es war im Jahr 1444, als der wohl in der schwäbischen Stadt Rottweil geborene Maler Konrad Witz für die Kathedrale von Genf einen Flügelaltar mit vier Szenen aus dem Leben des Heiligen Petrus malte und signierte. Auf der Tafel mit dem "Wunderbaren Fischzug Petri" hat Witz drei am See Genezareth spielende biblische Szenen kühn auf den Genfer See verlegt und dort so präzis am nördlichen Ufer platziert, dass am rechten Bildrand noch einzelne Bauten der damals befestigten Stadt Genf zu sehen sind, über dem jenseitigen Ufer aber drei charakteristisch geformte Berge hochsteigen, die sich präzise benennen lassen: Von links schiebt sich der lang gestreckte Hügelzug der Voirons ins Bild, von rechts der Hausberg der Genfer, der Salève, und in der Mitte erhebt sich die Pyramide des dahinter liegenden, etwas höheren Môle. Auch heute noch lässt sich die Bucht von Genf so fotografieren, dass sich diese drei Berge am Horizont abzeichnen.

Das Altargemälde von Konrad Witz im Kunstmuseum von Genf ist aber nicht nur der frühen Entstehungszeit wegen eines der interessantesten Werke der altdeutschen Kunst, sondern auch, weil es den landschaftlichen Tiefenraum mit fast magischer Kraft aufreißt und reale Gegenstände in einer beeindruckenden Lebendigkeit beschwört. Neben den landschaftlichen Details am jenseitigen Ufer verblüffen vor allem die Spiegelungen auf dem See und die Bewegungen im Wasser. Die drei biblischen Szenen mit Simon Petrus, dem Fischer, auf die sich das Bild bezieht, werden durch die Malerei höchst anschaulich versinnlicht. In der linken Hälfte ziehen Petrus und seine Helfer, die bis dahin nichts gefangen haben, das reich mit Fischen gefüllte Netz ins Boot, nachdem Jesus ihnen gesagt hat, auf welcher Seite sie das Netz auswerfen sollten. In der Zone davor werden die beiden Episoden lebendig, in denen Petrus aus dem Boot gesprungen ist: Das eine Mal wollte er wie Jesus auf dem Wasser gehen, ist aber seiner Kleingläubigkeit wegen nach wenigen Schritten eingebrochen. Die zweite Szene hat sich erst nach dem Tod Jesu ereignet: Petrus entdeckt vom Boot aus die Erscheinung des Herrn und stürzt sich ins Wasser.

Diese Erscheinung Jesu wird in der majestätisch aufgerichteten, in einen roten Mantel gehüllten Figur im Vordergrund zum bildnerischen Ereignis. Selbst die Landschaft im Hintergrund scheint auf die fast monumentale Gestalt, die sich am Ufer erhoben hat, zu reagieren. Es sieht so aus, als hätten sich die Berge am Horizont geteilt, um den Auferstandenen mit der dahinterliegenden Pyramide des Môle zu krönen. Das biblische Wunder ist also in der Gegenwart angekommen, ja es ereignet sich an einem Ort, den die Betrachter des Altars in Genf gut kannten, ja den sie bequem besuchen konnten. Die biblische Botschaft ist nicht mehr, wie in anderen religiösen Darstellungen jener Zeit, hinter Gold und gestanzten Schmuckformen versteckt, sie hat ihren Ort in der unmittelbaren Nachbarschaft gefunden, sie ist Teil der realen Welt geworden.

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(Foto: N/A)

1440 hat der Maler Konrad Witz den "Wunderbaren Fischzug Petri" im Genfer See verortet.

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(Foto: Bharat Choudhary)

Man kann anhand der Berggipfel noch heute sehen, wo er ungefähr stand, als er das Bild gemalt hat.

Man muss in der Malereigeschichte ganze Epochen überspringen, um Bilder zu finden, die so präzis wie Konrad Witz eine bestimmte Landschaft beschreiben, einen Ort am Wasser, der genau zu lokalisieren ist, also auch heute noch aufgesucht und mit der damals gemalten Ansicht verglichen werden kann. Fast alle großen Maler von der Renaissance bis zum Klassizismus haben sich durch die Natur und ihre Bauformen anregen lassen, haben aber die Landschaften, die sie als Resonanzkörper für das Geschehen auf ihren Bildern brauchten, dann doch nach ganz eigenen Vorstellungen zusammengestellt.

Albrecht Dürer etwa hat mit der Wissbegierde eines Forschers Naturphänomene und Bauformen studiert und auf seinen Reisen einzelne Orte, die etwas Charakteristisches zu bieten hatten, mit Stift oder Aquarellfarben detailgenau festgehalten. Aber die Hintergrundlandschaften auf seinen Gemälden folgen ganz eigenen Gesetzen; sie sind aus Elementen zusammengesetzt, die zwar von der Realität abgeleitet, aber weit über das natürliche Vorbild hinaus ausdrucksvoll übersteigert sind. Auch Albrecht Altdorfer - seine um 1525 gemalte "Donaulandschaft" mit der vom Wald fast aufgefressenen Burg im Hintergrund gilt als das früheste autonome Landschaftsgemälde - hat die Eindrücke, die er als Beobachter meteorologischer Phänomene in süddeutschen Fluss- und Gebirgslandschaften einsammelte, in seinen Gemälden zu etwas verdichtet, was über den örtlichen Alltag hinausging und die kosmische Kraft der Natur beschwören sollte.

Wie Maler eine geografisch genau definierte landschaftliche Situation in ihren Gemälden dramatisiert haben, wenn sie einen bestimmten Effekt erzielen wollten, lässt sich an El Grecos berühmter "Ansicht von Toledo bei Gewitter" eindrücklich studieren. El Greco hat die um den Alcazar-Hügel sich windende Stadt in seinem Hochformat von den Seiten her so zusammengestaucht, dass sie aussieht, als würde sie sich unbegehbar steil an der Seitenwand einer tiefen Schlucht aufbauen. Und da unter dem wild zerrissenen schwarz-blauen Wolkenhimmel alle Bauten in ein weißblaues Gespensterlicht gehüllt sind, wird seine Ansicht Toledos zu einem düsteren Naturschauspiel, einem kosmischen Licht-Spektakel, das die Interpreten zu aberwitzigen Deutungen verleitet hat.

Unter den Ansichten bekannter Örtlichkeiten und Landschaften tendierten diejenigen am ehesten in Richtung Realismus, die ganz bestimmte stadtbildbestimmende Bauten abzubilden hatten. So hat sich in Holland schon um 1620 das Genre der Vedute, der perspektivisch glaubwürdigen Ansicht von Städten und ihren Plätzen etablieren können. Vermeers um 1660 gemalte, magisch lebendige "Ansicht von Delft" mit den im Schatten liegenden Backsteinbauten und Booten im Vordergrund und den von der Sonne bestrahlten Ziegeldächern und Türmen dahinter, mit dem blauen Himmel und den Wolken darüber und der spiegelnden, alles Abgebildete verschleifenden Wasserfläche davor, kann auch als eine der atmosphärisch lebendigsten Landschaftsdarstellungen gefeiert werden.

Für unsere Sommerserie besuchen wir Strände und Ufer in der Kunst und der Wirklichkeit (Foto: SZ)

Wie weit Vermeer mit dieser quasi fotografisch exakten Wiedergabe seiner Heimatstadt und mit der Konzentration auf ein sekundenkurzes luministisches Ereignis seiner Zeit voraus war, wird einem bewusst, wenn man sich die konventionell stets aus den gleichen Versatzstücken zusammenkomponierten Landschaftsdarstellungen seiner holländischen Kollegen ansieht. Für die realen Formen der Natur, für Ausblicke auf ganz bestimmte Buchten am Meer, für ortsbezogene Strandsituationen oder für Ansichten malerischer See- und Flussufer begannen sich Maler erst zu interessieren, als die Welt im 18. Jahrhundert touristisch in Bewegung kam, als Kunden auftauchten, die Reisen in andere Landschaften unternommen hatten und von bestimmten Orten, die sich ihnen eingeprägt hatten, Ansichten haben wollten. So verdankten etwa venezianische Vedutenmaler wie Canaletto den auf ihrer Grand Tour durch Europa reisenden Herrschaften aus Nordeuropa ihren enormen Erfolg und ihren frühen Weltruhm.

Richtig ins Zentrum der künstlerischen Überlegungen rückten die in der Welt existierenden Landschaften aber erst im 19. Jahrhundert, als die Künstler sich selber in Bewegung setzten, als sie Reisen in ferne Länder unternahmen und exotische Kulturen entdeckten, als sie aus den Städten flohen, um in ländlichen Refugien Kraft zu schöpfen, und sich in Künstlerkolonien zusammentaten, um gemeinsam neue Themen zu erproben.

Vielen Malern genügte aber auch schon die sommerliche Ferienzeit, um von den städtischen Genres auf die Landschaft umzusatteln. So hat beispielsweise Gustav Klimt all seine Landschaftsgemälde während der Sommermonate in Urlaubsorten gemalt. Seine auf dem Boot zumindest begonnenen, koloristisch grell flimmernden Ansichten der Ufer des Attersees versprühen das Glück des erlebten Augenblicks wie nur ganz wenige Bilder, die am Wasser aufgenommen wurden.

Am ehesten können wohl die Meer- und Strandbilder einiger Impressionisten etwas von dem mitteilen, was Urlauber auch heute noch am Wasser suchen, aber meist nur noch eingeschränkt erleben können. Wie kein anderer Maler konnte Claude Monet die wechselnden Farben des Meers, das Plätschern der Wellen, das Rauschen des Windes und den Donner der Brandung beschwören. Und wenn er über einer sonnenbeschienenen Hotelterrasse am Meer die Fahnen der anwesenden Gäste im Wind flattern lässt, suggeriert er den Betrachtern im Museum ein atmosphärisches Erlebnis, das Erinnerungen wachruft und Sehnsüchte weckt.

In unserer Sommer-Serie werden wir fast die ganze Welt bereisen, wir werden sehen, wie Maler ganz unterschiedlichen Temperaments auf die Besonderheiten der vor ihnen liegenden Landschaften reagieren, wie sie das Meer erleben oder das Treiben am Strand beobachten, wie sie den tief unter ihnen liegenden Spiegel eines Sees wiedergeben oder am Ufer eines Flusses eine gut erhaltene mittelalterliche Stadt entdecken. Und wir werden das alles mit dem heutigen Zustand vergleichen - und wohl des Öfteren erschrecken.

© SZ vom 21.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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