Sebi und Teufels-Anneli:Gschpüri und Gsüchti

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Der Bund auf dem Rütli: Die drei ersten Eidgenossen Werner Stauffacher, Walter Fürst und Arnold Melchthal auf einem Holzstich, der um 1860 verfertigt wurde. (Foto: picture alliance / akg-images)

Das heimliche Bündnis mit der Moderne: Charles Lewinskys historischer Roman "Der Halbbart" über den Freiheitskampf der Schweizer Urkantone ist zermürbend einfältig.

Von Burkhard Müller

Eusebius heißt er eigentlich, aber dieser Name ist natürlich für einen Bauernbub aus der Talschaft Schwyz viel zu gewichtig, und so nennt er sich und nennen ihn alle nur Sebi, genau wie seine älteren Brüder Origenes und Polykarp Geni und Poli heißen. Da er bloß eine halbe Portion ist, gibt man ihn als "Postulanten", der sich seine Mönchswürde schwer wird verdienen müssen, ins nahe Kloster Einsiedeln, wo er als Schweinehirt arbeiten muss, sich über die Härte und Heuchelei der Brüder wundert und bei Nacht und Nebel flieht, als der Prior ihm zumutet, den bei der Geburt getöteten Bankert eines Mönchs ohne Aufsehen an die Schweine zu verfüttern.

Das kleine Mädchen begräbt er auf eigene Faust im winterlichen Wald, tauft es auf den Namen Perpetua (aus der vermutlich bei längerem Leben eine Peti geworden wäre) und stellt sich vor, wie sie trotz mangelndem katholischen Ritus dennoch am Limbus vorbei in die Schar der Engel eingeht. Von nun an ist es aus mit der Ruhe seines Lebens, er muss sich bei dem Schmied Stoffel und dessen lieblicher Tochter Kätterli verstecken, wobei ihm der Halbbart behilflich ist, ein rätselvoller Fremdling mit halbverbranntem Gesicht (daher der titelgebende Name), der die Heilkunst versteht, ihn Lebensklugheit lehrt und ihn in das noch weithin unbekannte "Schachzabel" einführt, das Schachspiel; wie sich nur allmählich und indirekt erweist, ist der Halbbart ein Jude, der den Versuch, ihn wegen eines angeblichen Hostienfrevels auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, nur äußerst knapp überlebt hat.

Ein Mittelalter-Roman also, der sich von anderen seiner Art nur mäßig unterscheidet. Immer ist hier einer der Held, der sich durch sein waches, kritisches Wesen für den heutigen Leser vorteilhaft von seinem zeitbedingt dumpfen Umfeld abheben darf: eine randständige Figur, die sich mit anderen ihresgleichen, Wanderhuren, weisen Frauen, den wenigen vernünftigen und humanen Männern, die es in einer solchen Umwelt gibt, zu einem heimlichen Bündnis der Moderne gegen die geballte repressive Rückständigkeit verflossener Epochen zusammenschließt.

"Und der heilige Josef, der ja ein Zimmermann ist, schnitzt ihr vielleicht ein Wasserrad"

"Der Halbbart" heißt das Buch zwar, aber erzählt wird es vom Sebi. Woher ein anfangs circa zwölf-, am Ende vielleicht 17-jähriger Bauernsohn in einer Ära, die fast niemals ich sagt, so viel eigenes Ego und neuzeitliche Intelligenz bekommen haben soll, wird nicht erörtert. Denn das ist die uneingestandene Grundlage des angestrebten identifikatorischen Lesevergnügens, welches man sich nicht denkfaul und selbstgefällig genug vorstellen kann.

Es ist die ewige Crux der historischen Romane, wenigstens aller, die es mit Zeiten vor dem 18. Jahrhundert zu tun haben, als mit der Empfindsamkeit auch der moderne Roman entsteht. Aber lassen sich ältere Epochen mit dieser individualistisch verplauderten Form einfangen?

In der Manessischen Handschrift, entstanden etwa zur gleichen Zeit, in der Lewinskys Roman spielt (und ebenfalls in der Schweiz), ähneln sich die Bildnisse selbst hochrangiger Personen so sehr, dass man begreift: Darauf kam es nicht an. Ein Autor, der sich das 14. Jahrhundert vornimmt, muss schon ein begnadeter Ränkeschmied sein wie Umberto Eco im "Namen der Rose", dass man ihm seine Anachronismen abkauft, die solche der Seele sind und sich durch noch so sorgfältige Recherche nicht abstellen lassen.

Ein Romancier wie Eco ist Charles Lewinsky aber mitnichten. Seine Story dümpelt chroniknah und spannungsfern durch die Vorgeschichte der Schlacht von Morgarten, in der die Schweizer Urkantone 1315 die Herrschaft der Habsburger abschüttelten. Das Ambiente, in dem statt eines Haferbreis stets und immer ein "Haberbrei" verzehrt wird, kennt man zur Genüge von den Mittelaltermärkten mit ihrer Emphase auf Selbstgesottenem und Selbstgefilztem.

Dass hier etwas nicht stimmt, verrät sich im Stil. Dem in jeder Hinsicht frühreifen Protagonisten wird eine Sprache in den Mund gelegt, die die Quadratur des Kreises vollbringen soll, zugleich bodenständig-altertümlich zu klingen und doch dem Leser der Gegenwart lebensvoll einzuleuchten. Es hört sich so an: "Ich habe ein Paternoster gesagt und mich bedankt, dass der heilige Christophorus mich auf allen Wegen beschützt hat. Ich habe ihn gebeten, sich um die kleine Perpetua zu kümmern, falls sie bei ihm im Paradies sein sollte. Für mich selber habe ich mir vorgenommen, eine Geschichte zu erfinden, in der ein neugeborenes Mädchen in den Himmel kommt und von dort aus Wunder macht. Die anderen Heiligen haben sie alle gern, stelle ich mir vor, und spielen mit ihr, weil sie die Jüngste ist. Und der heilige Josef, der ja ein Zimmermann ist, schnitzt ihr vielleicht ein Wasserrad."

Das ist rührselig zum Steinerweichen, besonders mit seinem Perfekt als durchgehaltenem Tempus; auf fast 700 Seiten hat es das Werk der Erzählung zu vollbringen und zermürbt die Geduld auch des langmütigsten Lesers, zumal es oft in krassem Wechsel des Registers neben dem Konjunktiv der indirekten Rede zu stehen kommt. Erschwerend wirkt, dass sich bestimmt alle Mitwirkenden des Schwyzerdütsch bedienen, das Buch aber natürlich auf Hochdeutsch geschrieben ist. Als regionale Unterpfänder streut Lewinsky zahlreiche Helvetismen ein, für deren Erklärung er den geneigten Leser auf seine Webseite verweist. Aber dass ein Gschpüri ein Gefühl und ein Gsüchti eine Krankheit ist, kriegt er schon selbst heraus; selbst dass "füdliblutt" so viel heißen muss wie splitternackt, kann er sich ausrechnen.

Geschichten, die vom Erzählen handeln, sind in der Regel keine gut erzählten Geschichten

Der Sebi begibt sich schließlich in die Lehre des Teufels-Annelis, das ihm beibringen soll, wie man gute Geschichten erzählt. Das, wie sich erweist, ist seine wahre Bestimmung; und der Leser darf ihm bei seinen Probestücken lauschen. Geschichten, die vom Geschichtenerzählen handeln, sind in der Regel keine gut erzählten Geschichten: Denn sie verlagern den Akzent vom Mitgeteilten auf den Mitteiler, und daran kann kein Hörer Interesse haben.

Das Buch hat noch eine halbverdeckte zweite Ebene. Der Halbbart heißt nicht zuletzt deswegen so, weil er den Namenspatron der "Halbbarte" abgibt, der Hellebarde also, jener in Adelskreisen nicht satisfaktionsfähigen Stangenwaffe, mit der die Schweizer Bauern bei Morgarten die habsburgischen Ritter vom Pferd zogen. (Die Etymologie ist nett aber falsch - es stecken in Wirklichkeit die alten Wörter "Barte" = "Beil" und "Helm" = "Griff" darin.) Und es werden erhebliche Zweifel an der nationalen Geschichtsschreibung geäußert, die Morgarten als Heldentat nach dem Vorbild von David gegen Goliath feiert; in Wirklichkeit sei es ein feiger kleiner Hinterhalt gewesen.

Charles Lewinsky betätigt sich, was ein Leser aus dem "großen Kanton", sprich Deutschland, gar nicht unbedingt mitbekommt, als Nestbeschmutzer der eidgenössischen Sache. Aber das sollen die Schweizer vielleicht am besten unter sich ausmachen.

Charles Lewinsky : Der Halbbart. Roman. Diogenes, Zürich 2020, 686 Seiten, 26 Euro.

© SZ vom 13.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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