Scott Bradfields "Die Leute, die sie vorübergehen sahen":Elternlose Reise durch die Erwachsenenwelt

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In seinem Roman "Die Leute, die sie vorübergehen sahen" schickt Scott Bradfield eine entführte Kinderheldin in die Wüste. Dort trifft das kleine Mädchen auf einen Kojoten, der ihr einen Ratschlag fürs Leben gibt.

Von Christoph Schröder

Nach Tagen in der Wüste, geplagt von Schmerzen, Durst und düsteren Visionen, begegnet Sal einem Kojoten, der ihr einen Ratschlag fürs Leben gibt: Abstand halten. Und: "Sieh dich vor, dass du dir keine Hobbys zulegst, die dich zwingen, deine Zeit mit materiellen Dingen zuzubringen." Zu diesem Zeitpunkt hat Sal bereits einen Lern- und Bewusstwerdungsprozess hinter sich, für den es im Normalfall ein ganzes Erwachsenenleben braucht. Sal allerdings ist ein kleines Mädchen.

Schon in seinem Debütroman "Die Geschichte der leuchtenden Bewegung", auf Deutsch 1993 erschienen, hatte der Kalifornier Scott Bradfield ein Kind als Erzählfigur eingeführt. Sal Jensen im neuen Roman ist gerade mal drei Jahre alt, als etwas Ungeheuerliches mit der größten Selbstverständlichkeit geschieht: Ein Fremder kommt ins Haus und nimmt das Kind mit; er will es vor einer Zumutung namens Amerika beschützen.

Die Erwachsenenwelt erscheint als ein Museum der toten Gegenstände

Worauf Bradfield abzielt, wenn er Sal von Station zu Station ihrer elternlosen Reise schickt, in zunehmend surreal anmutende Szenarien und ohne Rücksicht auf die Anforderungen an ein realistisches Erzählen, das ist die Überfürsorge, die der Staat seinen Bürgern (und vor allem den vermeintlich schwächsten unter ihnen) angedeihen lässt, das sind seltsame pädagogische und psychologisierende Ansätze, religiöse Eiferer und falsche Schutzpatrone. Sal ist ein Durchlauferhitzer, durch den Wünsche, Sehnsüchte, narzisstische Fixierungen und Projektionen der Normalwelt fließen. Der unbestechliche, kühle Kinderblick setzt dazu einen entlarvenden Kontrapunkt, der noch durch den Umstand verstärkt wird, dass Bradfield von Sal in der dritten Person und nicht aus der Ich-Perspektive erzählt.

Die Erwachsenenwelt erscheint als ein Museum der toten Gegenstände; eine Reihe gescheiterter Leben, deren Tristesse sich in einem Haufen wertlos gewordener Dinge spiegelt. Dagegen steht der Ratschlag des Kojoten. In der demonstrativen Abstinenz von jeder Sozialromantik und moralischen Belehrung liegt die Stärke dieses Romans, auch wenn Bradfields Freude am Grotesken am Ende möglicherweise etwas überschießt.

Scott Bradfield: Die Leute, die sie vorübergehen sahen. Roman. Aus dem Englischen von Manfred Allié. Residenz Verlag, St. Pölten/Salzburg/Wien 2013. 234 Seiten, 21,90 Euro.

© SZ vom 17.06.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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