Schwerpunkt Kanada:Eingewandert, angekommen

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Die Bücherschau rückt vier Autoren in den Fokus, die selbst nach Nordamerika emigriert sind.

Von Ingrid Brunner

Eine gute Idee hat ja des Öfteren mehrere Väter. Beim Kanada-Schwerpunkt auf der diesjährigen Münchner Bücherschau waren dies die kanadische Botschaft in Deutschland, der Canadian Council for the Arts und allen voran der Programmchef der Münchner Bücherschau, Thomas Kraft. "Ich habe familiäre Verbindungen nach Kanada, und im Jahr 2008 bei der Frühjahrsbuchwoche München hatten wir unter dem Motto ,Literatur baut Brücken' Kanada schon einmal als Gastland." Dass Literatur Brücken baut, zeigen auch die vier geladenen kanadischen Autoren Kim Thúy, Madeleine Thien, Kenneth Bonert und Mariko Tamaki. Bei aller Verschiedenheit in ihren Ausdrucksformen: Gemeinsame Klammer ist ihr Migrationshintergrund. Für ein klassisches Einwanderungsland wie Kanada nichts Besonderes. In ihren Büchern bauen alle vier ihre eigene Brücke. Etwa zurück in die eigene Familiengeschichte, wie es Kenneth Bonert in seinem Entwicklungsroman "Der Löwensucher" tut. Bonert, dessen Familie aus Südafrika nach Kanada emigrierte, entfaltet ein Panorama, das den jungen Isaac vom jüdischen Schtetl im Baltikum nach Johannesburg in Südafrika führt. Eingezwängt in erstickende Familientraditionen und trotz des Aufflammens des Antisemitismus auch in Südafrika sucht er mit viel Chuzpe seinen Platz im Leben und kämpft um eine aussichtslos erscheinende Liebe. Ein absolut lesenswertes Stück Literatur.

Jeder der vier Autoren baut eine ganz eigene Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Von Montreal nach Kambodscha reist die Wissenschaftlerin Janie in Madeleine Thiens Roman "Flüchtige Seelen". Als ihr Kollege und Mentor Hiroji spurlos verschwindet, verlässt sie Hals über Kopf Mann und Kind. Janies verdrängtes Kindheitstrauma lebt mit aller Vehemenz wieder auf. Als Waise kam sie über Umwege nach Kanada, wo sie bei Adoptiveltern aufwuchs. Wie hypnotisiert folgt Janie Hiroji nach Kambodscha, wo dessen Bruder als Mediziner in den Wirren des Pol-Pot-Regimes verschwunden ist. Von da verschwimmen Gegenwart und Vergangenheit, sie durchlebt noch einmal den Verlust von Vater und Mutter, wie sie und ihr Bruder durch ein zerstörtes Land mit zerstörten Kindheiten und ausgelöschten Biografien irren. Thien, 1974 in Vancouver geboren, erzählt in verstörend-schöner Sprache von der Suche nach sich selbst, davon, wie Krieg und Terror in den Seelen der Überlebenden weiterwüten.

Heiterer, wenngleich mit einem melancholisch-zarten Unterton erzählt Kim Thúy in "Der Geschmack der Sehnsucht" von Mãn, der jungen Vietnamesin, die von ihrer Mutter einem Mann in Kanada versprochen wird. Das Leben mit einem fremden Ehemann in einer kalten, fremden Umgebung meistert sie, indem sie all ihre Sehnsucht in ihrer Garküche auslebt. Beim Zubereiten der Gerichte ehrt sie das Andenken an ihre Mutter, bis sie für ihre Kochkünste berühmt wird. Sie reift zu einer selbstbewussten Frau, der sogar noch das Glück zuteil wird, sich zu verlieben und wiedergeliebt zu werden.

Aus der Reihe fällt da Mariko (Text) und Jillian (Zeichnungen) Tamakis Graphic Novel "Ein Sommer am See". Diese Coming-of-Age-Geschichte von Windy und Rose, die sich jedes Jahr in den Ferien am See treffen, erzählt, wie die beiden Mädchen ihren Platz suchen, neue Rollen ausprobieren: zu alt für Sandburgen, zu jung, um von den Jungs ernst genommen zu werden. Mal mit leichter Feder, mal in expressiven Bildern und in überzeugender Sprache erzählen die Cousinen Mariko und Jillian Tamaki von streitenden Eltern, von ihrem erwachenden sexuellen Interesse, vom Unverstandensein. "Ein Sommer am See" wurde mit dem Eisner Award 2015 ausgezeichnet, der in der Branche als Comic-Oscar gilt.

Mariko Tamaki: "Ein Sommer am See", Lesung und Ausstellungseröffnung 22.11., 11 Uhr, Gasteig.

Kenneth Bonert: "Der Löwensucher", Lesung 29.11., 19 Uhr, Gasteig.

Kim Thúy: "Der Geschmack der Sehnsucht", Lesung 28.11., 19 Uhr, Gasteig.

Madeleine Thien: "Flüchtige Seelen", Lesung 21.11., 19 Uh r, Gasteig .

© SZ vom 12.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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