Schriftstellerkonferenz:In der Angstsuppe

Lesezeit: 5 min

An den Grenzen Europas, Ende März 2016: Proteste gegen die Flüchtlingspolitik im Hafen von Mytilini auf der griechischen Insel Lesbos. (Foto: Regina Schmeken)

In Berlin trafen sich dreißig Autoren aus dreißig Ländern zu einem Gespräch über europäische Werte, Vor- und Nachteile von Grenzen und die Kraft der Poesie.

Von Jörg Magenau

Europa ist "ein Lebensstil", "ein Café, in dem man alle Sprachen spricht", ein "Archipel voller Wortbrücken". "Europa geht bergab, und am Ende ist immer das Meer." So klingt es in dem Manifest der Schriftsteller, die sich am Montag und Dienstag in der Berliner Akademie der Künste zur 2. Europäischen Schriftstellerkonferenz versammelten. Dreißig Autoren aus dreißig Ländern kamen zusammen, um in den Zeiten der Flüchtlingskrise über europäische Werte und Kultur zu diskutieren und über Grenzen, Zugehörigkeiten und Sprache nachzudenken. Das Manifest war der Höhepunkt des ersten Tages. Jeder Teilnehmer steuerte ein paar Sätze für diese chorische Collage bei.

Von den Mitinitiatoren Tilman Spengler als unverzichtbarer "Firlefanz" und von Mely Kiyak als "vielstimmiges Gebilde" angekündigt, weil es sowieso nichts geben könne, das alle unterschreiben, wurde der Text von den Schauspielern Thorsten Hierse und Barbara Schnitzler im Ton hoher Literatur, ja als "Gesang der Menschheit" - wie es an einer Stelle hieß - vorgetragen. Wie angenehm! Was waren das für rohe Zeiten, als Manifeste noch durchs Megafon gebrüllt werden mussten.

"Für mich ist Utopie Poesie - und das ist das Gegenteil von Propaganda."

Das Manifest, das Gedicht sein wollte, war so eine Art Generalbass der Debatte. Es demonstrierte den Versuch der Schriftstellerzunft, alles Thesenhafte und jeden Statementverdacht zu unterlaufen, das Ideologische auszutreiben und trotz erklärter Unmöglichkeit dann aber doch etwas Gemeinschaftliches zu produzieren, wenn auch nur dadurch, dass jeder für sich selber spricht. Politisches Engagement: ja schon, aber bitte recht friedlich, oder, wie György Dragomán aus Ungarn es formulierte: "Für mich ist Utopie Poesie - und das ist das Gegenteil von Propaganda."

Dragomán erlebt in seinem Land derzeit, dass die "Sprache der Gewalt", der Abgrenzung, der Sinnentleerung immer machtvoller wird und erhofft sich von der Literatur, dass sie den Worten ihre Bedeutung zurückgeben möge. Ähnliches berichtete Sergei Lebedew aus Russland, der schon die Frage danach, wie die Sprache sich dort verändere, für deplatziert hielt, weil es gar kein öffentliches Leben und also auch keine öffentliche Sprache mehr gebe - jenseits einer kriegerischen und sehr schlichten Feindbildproduktion, die an vergangene Sowjetzeiten erinnere. Für Yavuz Ekinci, Herausgeber einer kurdischen Exilliteraturreihe in der Türkei, ist schon das Benutzen der kurdischen Sprache eine politische Tat und eine hohes Risiko.

Die politische Qualität der Literatur ist demnach weniger in verkündbaren Inhalten zu suchen, als im Beharren auf Genauigkeit und Poesie. Literatur ist schon dadurch, dass sie existiert, politisch. "Grenzen Nieder Schreiben" lautete das Motto der Tagung, das zum Glück weniger politaktivistisch als ästhetisch und psychotherapeutisch begriffen wurde. Außenminister Frank-Walter Steinmeier wies in seiner Eröffnungsrede auf all die nicht sichtbaren Grenzen hin, die Vorurteile, die Ahnungslosigkeit, die Ignoranz, die uns trennen, aber auch auf die Grenze "zwischen Möglichem und Wünschbarem", die uns vom "Traum von Europa" trennt.

Er erinnerte daran, dass im europäischen Gründungsmythos der Entführung der Europa durch Göttervater Zeus die Migrationsbewegung ebenso wie auch der Nahe Osten als Herkunftsregion bereits enthalten sind. Europa lebe von Bewegung und Veränderung, sagte er. Gleichwohl gehöre dazu aber auch die "Benennung" der Außengrenze. Und wenn ein Politiker eine Grenze benennt, dann meint er damit doch wohl, sie auch entsprechend zu sichern.

Die Schriftsteller taten sich dagegen schon mit dem Benennen schwer. Da überwog der Wunsch nach einer offenen Gesellschaft und einer Welt, in der sich jeder frei bewegen kann, um dort zu leben, wo es ihm beliebt und wo "die eigene Würde geachtet wird", so die syrische Autorin Kefah Ali Deeb. Sie berichtete aber auch, dass es Abschottungstendenzen nicht nur in den aufnehmenden Gesellschaften gebe, sondern auch unter den Flüchtlingen, wenn diejenigen, die schon da sind, auf einmal fordern, die Grenzen zu schließen, als hätten sie allein ein Monopol auf Europa.

"Wir vergessen, dass die Menschen irrational sind . . ."

Dass aber nicht alle Grenzen einfach niederzuschreiben sind, hätte sich aus der Debatte um "europäische Werte" ergeben können, die, auch wenn man sie als "universale Werte" bezeichnet, doch immer auch etwas Kolonialistisches an sich haben. Über Werte zu sprechen heißt, moralische Grenzen zu setzen. Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Toleranz: Wenn sie verteidigt werden sollen, bleibt die Frage, wie eine tolerante Gesellschaft mit den Intoleranten, mit Hetzern, Rassisten und Dogmatikern umgehen soll.

Da setzen die Autoren auf Vernunft, auf Argumente, auf Gelassenheit und auf die verbindende Kraft des Wortes - was auch sonst. Interessant aber wurde es immer dann, wenn die Widersprüche und Grenzen dieses alteuropäischen Konzepts der Aufklärung aufbrachen, zum Beispiel dann, wenn der belgische Autor Peter Terrin mahnte: "Wir vergessen, dass die Menschen irrational sind, als müssten wir sie nur mit Vernunft impfen." Oder wenn Joanna Bator aus Polen angesichts der dortigen Rechts-Regierung klipp und klar zu Protokoll gab: "Wir linken Intellektuellen sind gescheitert." Intellektuelle müssten "Übersetzer" sein, die das, was in der modernen Welt geschieht, den Menschen erklären, denn die hätten ja durchaus ein Recht darauf, Angst zu haben vor Veränderungen. Jetzt gelte es, das Versäumte "mit den Instrumenten der Demokratie" wieder zu reparieren. "Auch ich habe Angst und weiß, dass ich Grenzen habe", sagte sie.

Von Angst war häufig die Rede. Angst, so scheint es, ist der Treibstoff der gegenwärtigen politischen Dynamik, und Angst tendiert nach rechts. Die aus einer indischen Familie stammende, in London aufgewachsene und in Berlin lebende Priya Basil sprach von einer "Angstsuppe": die Rhetorik der Angst - von Finanzkrise bis zu Terrorismus und Flüchtlingsströmen - habe zu einer Erosion des Selbstbewusstseins der Menschen geführt. Dass daran auch die Medien ihren Anteil haben, die mit möglichst sensationellen Meldungen Leser gewinnen oder Klicks generieren wollen, könnte der Literatur als Medium der Nachdenklichkeit und Ruhe neues Gewicht und politische Relevanz verleihen.

Wer schreibt muss lernen, das verstehen zu wollen, was man nicht versteht

Der Schweizer Jonas Lüscher plädierte folgerichtig dafür, die virulenten Ängste nicht ernst zu nehmen, weil man sich damit bereits aufs Gleis des Populismus begebe. Das wäre etwa so, wie wenn die Eltern zu ihrem Kind, das nachts zu ihnen kommt, weil ein Monster unter seinem Bett liegt, sagen würde, nein, da ist nicht ein Monster, sondern zwei. Auch Politiker, meinte Peter Terrin, handeln häufig aus Angst davor, das Falsche zu tun, die Wahlen oder an Zustimmung zu verlieren. Schriftsteller können dagegen aus einer Position der Unabhängigkeit sprechen. Das ist ihr Vorteil. Er plädierte für Empathie - gegenüber Rechtsradikalen genauso wie gegenüber Flüchtlingen, und am besten beides in einem Text: Man müsse als Schreibender lernen, das verstehen zu wollen, was man nicht versteht.

Dass Grenzen auch positive Eigenschaften haben - dieser Gedanke, mit dem sich Peter Sloterdijk unbeliebt gemacht hat (der seither als "Rechter" aus dem Diskurs der Aufgeklärten ausgegrenzt wird), musste aus dem Publikum in die Diskussion gebracht werden. Wie sei es denn mit TTIP - da gehe es doch darum, bestehende (Handels)Grenzen zu verteidigen gegen mehr Freiheit? Und wie ist das mit der eigenen Identität, die doch nur in Differenz zum anderen ausgeprägt werden kann? Und gilt Ähnliches nicht auch für Gesellschaften? Solche Fragen, die eine Dialektik der Grenzen und der Differenzen ausgelotet hätten, kamen deutlich zu kurz. Das machte aber nichts. Denn diese europäische Schriftstellerkonferenz ließ in ihrer Vielstimmigkeit - und auch in ihrer Begrenztheit und gelegentlicher liebenswerten Naivität - tatsächlich Europa lebendig werden als einen Sehnsuchtsort des Austauschs und des offenen Gesprächs über Sprachgrenzen hinweg. Und sie zeigte, welch enormer Bedarf an Literatur gerade heute besteht. Was hilft, wenn nicht die Sprache?

© SZ vom 12.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: