Schriftstellerin Thea Dorn:"Es geht um mehr als Klassenfragen"

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Thea Dorn, geboren 1970 in Offenbach am Main, ist Schriftstellerin und Moderatorin, seit Kurzem auch regelmäßig im "Literarischen Quartett". In ihren Essays und Büchern ergründet sie die politische Kultur und die Gesellschaft in Deutschland, zum Beispiel in "Ach, Harmonistan" oder "Die deutsche Seele". Zuletzt erschien ihr Roman "Die Unglückseligen" (Knaus Verlag). (Foto: Svea Pietschmann/dpa)

Sie beobachtet den Bundestagswahlkampf, hält die soziale Frage für überschätzt und lobt die Langeweile der deutschen Politik.

Interview von Karin Janker

Am 24. September wählt Deutschland den Bundestag. Im Wahlkampf zeigt die politische Kultur ihre Konturen. Die Kampagnen, Auftritte und Äußerungen von Politikern sagen viel über den Politikbetrieb aus, aber auch über das Land und seine Bürger. Während sich die Parteien langsam warmlaufen, spricht die SZ zum Auftakt mit der Schriftstellerin Thea Dorn, die dafür bekannt ist, dass sie von der Politik härtere Auseinandersetzungen fordert. In den vergangenen Wochen allerdings hat sie ihre Meinung geändert.

SZ: Der Wahlkampf läuft schleppend an. Die Wahlen in Frankreich, die Politik des US-Präsidenten, das Referendum in der Türkei - all das scheint gerade interessanter zu sein als die Wahl, die in fünf Monaten hierzulande stattfindet. Was steht bei der Bundestagswahl auf dem Spiel?

Thea Dorn: Ich glaube nicht, dass diese Entwicklungen in Konkurrenz zum Wahlkampf in Deutschland stehen. Im Gegenteil, sie werden ihn massiv beeinflussen. Es geht bei der Bundestagswahl auch um die Zukunft der westlichen Welt. Diese befindet sich offensichtlich in der Krise. Ein deutscher Wahlkampf, der dies nicht zum Thema machte, wäre peinlich und gefährlich verfehlt. In Frankreich feiert der Front National mit Marine Le Pen Erfolge — wenn auch der erste Wahlgang nicht ganz so dramatisch ausgegangen ist wie befürchtet. In der Türkei errichtet Präsident Erdoğan eine ausgewachsene Diktatur. Hinzu kommt Donald Trump, ein politischer Amokläufer im Weißen Haus. Man kann 2017 keinen Wahlkampf machen, als befänden wir uns im seligen Entenhausen und es ginge nur um Steuersenkungen für die einen oder die anderen.

Die Probleme, über die Sie sich Sorgen machen, sind aber für viele Menschen weit weg. Was haben sie mit ihrem Alltag in Berlin, München, Gelsenkirchen zu tun?

Wer beim Wählen vor allem an seine eigenen Probleme denkt und sich dafür Lösungen von der Politik erhofft, sollte sich vor Augen halten, dass sich jede Veränderung der Weltlage auch unmittelbar auf ihn auswirkt. Wenn es zu größeren Auseinandersetzungen in der Welt kommt, betrifft das den Hartz-IV-Empfänger in der Provinz genauso wie die Club-Mate-Trinkerin in Berlin-Prenzlauer Berg. Es geht bei diesem Wahlkampf jedenfalls um mehr als Klassenfragen.

Das lässt sich leicht sagen, wenn man selbst zur gesellschaftlichen Mitte gehört. Was ist mit jenen Menschen, die sich abgehängt fühlen oder es tatsächlich sind?

Ich halte es, ehrlich gesagt, für eine besonders subtile Form der Unterschichtenverachtung, wenn man ihnen unterstellt, sie würden sich für nichts interessieren außer für ihre eigene sozioökonomische Lage. Und wenn wir in die USA schauen, stellen wir fest, dass es eben nicht nur die schlecht ausgebildeten, armen Hillbillies und Rednecks waren, die Donald Trump gewählt haben. Es ist falsch zu glauben, dass einzig die Abgehängten den großspurigen Scharlatanen hinterherliefen. Natürlich gibt es in der westlichen Welt nach wie vor Armut. Aber ich glaube nicht, dass sie momentan unser größtes Problem ist.

Diese Haltung muss man sich erst mal leisten können. Unterschätzen Sie die soziale Frage nicht dramatisch?

Für uns alle, für uns als Gesellschaft, ist das größte Problem die Tatsache, dass uns gerade von zwei Seiten her der Kontinent angezündet wird - im Westen liebäugelt Le Pen mit dem Feuer, im Osten sind mit Putin und Erdoğan zwei ausgemachte Zündler an der Macht. Und darauf, dass Amerika abermals zum Löscheinsatz über den Atlantik eilt, sollten wir uns in Zeiten von Trump nicht verlassen.

Falls es diese starke Konzentration auf die Außenpolitik gibt - wie wird sie sich auf die politische Debatte auswirken?

Ich erwarte, dass der Wahlkampf ein ruhiger und besonnener sein wird, mit eher wenig Emotionalisierungspotenzial. In Deutschland steht - zum Glück - keine solche Schicksalsentscheidung an wie vor einigen Monaten in den USA oder jetzt in Frankreich. Unsere beiden Kandidaten, Schulz und Merkel, verkörpern ja nur zwei Ausrichtungen eines sehr ähnlichen Programms: der bürgerlichen Sozialdemokratie. Der eine ist ein wenig sozialdemokratischer, die andere ein wenig bürgerlicher. Die einzig entscheidende Frage wird sein, ob es zu Rot-Rot-Grün kommen könnte.

Früher hätten Sie diese Gleichförmigkeit vermutlich kritisiert. In Ihrem Buch "Ach, Harmonistan" von 2010 warfen Sie der deutschen Politik vor, die Harmonie zur Ideologie zu erheben, und forderten mehr Kontroverse und klarere Fronten.

Ja, tatsächlich sind es für mich gerade verwirrende Zeiten. Inzwischen bin ich froh darüber, dass in Deutschland die Politik so langweilig ist. Denn das heißt auch, dass Politiker zivilisiert miteinander reden können und dass wir eine stabile Mitte haben. Ich war gerade längere Zeit in den USA - was ich dort erlebt habe, hat mich umdenken lassen. Dort sind die Fronten nicht nur klar, sondern so verhärtet, dass Hemmschwellen fallen. Denken Sie daran, wie die Leute "Lock her up!" skandierten und forderten, Hillary Clinton solle eingesperrt werden. Da wurden Mobgelüste entfesselt. Angesichts dessen bin ich froh über den Kuschelkurs in der Bundesrepublik.

In einem Ihrer Essays wünschten Sie Angela Merkel zum Amtsantritt Erfolg - auch, weil sie eine Frau ist. Wie fällt Ihre Bilanz nach zwölf Jahren Merkel aus?

Ich habe von Angela Merkel nie erwartet, dass sie feministische Politik macht. Und das hat sie auch nicht. Vielmehr fand ich es angenehm zu sehen, wie es ist, wenn da oben eine Frau ist. Aber das reicht jetzt auch wieder. Inhaltlich bin ich von Merkel enttäuscht. Die Kanzlerin hält das Steuer sehr fest in der Hand, aber sie segelt auf Sicht, ohne festen Kurs. Obwohl sie Protestantin ist, fehlt ihr die Sturheit, die etwa ein Helmut Schmidt hatte und die ich ihr anfangs auch zugetraut hätte. Sie handelt mir nicht konsequent genug. Insbesondere gegenüber Erdoğan tritt sie mir viel zu defensiv auf. Außerdem gelingt es ihr nicht, den Bürgern in Deutschland das Gefühl zu vermitteln, dass sie ihre Gegenwartsängste wirklich versteht.

Welche Ängste meinen Sie?

Unsere Welt befindet sich seit zehn, fünfzehn Jahren im Turbobeschleunigungsgang: die Digitalisierung, die Veränderungen in Arbeitswelt und Familienstrukturen, die Folgen der Globalisierung - wer heute sagt, dass ihn das überfordert, der wird lächerlich gemacht oder als rückständig wahrgenommen. Dabei kann einem bei dieser Geschwindigkeit tatsächlich angst und bange werden. Man ist noch lange nicht reaktionär, wenn man sagt: "Holla, mir geht das alles zu schnell." Dass es da eine Sehnsucht gibt nach Leuten, die Beständigkeit versprechen und sich gegen den fortschrittsbeschwipsten Zeitgeist positionieren, ist ein verständliches Bedürfnis. Der Politik, aber auch den Medien gelingt es nicht, damit klug umzugehen.

Kann die Literatur mit dieser Unsicherheit produktiv um gehen?

Sicher, das ist einer der Gründe, warum ich mich in meinem letzten Roman mit Gentechnik beschäftigt habe. Aber natürlich haben wir Schriftsteller es leichter als die Politiker: Wir haben unsere Arbeit getan, wenn es uns gelingt, dem Unbehagen nachzuspüren, die Ängste präzise aufs Papier zu bringen. Politiker müssen Lösungen vorschlagen.

Eine Partei, die zumindest versucht, auf die Unsicherheit und Überforderung vieler Menschen zu reagieren und daraus politisches Kapital zu schöpfen, ist die Alternative für Deutschland.

Indem sie simple Lösungen verspricht, die natürlich nicht funktionieren. Ich glaube, die große AfD-Welle ist inzwischen durch, der momentane Zustand der Partei ist lausig, wie man auch auf dem Parteitag gesehen hat. Einerseits fehlt den Rechtspopulisten - zum Glück - eine starke Führungsfigur. Andererseits hat ihnen der Trump-Schock geschadet. Die Welt sieht ja gerade, dass es nichts bringt, aus einem Protestgefühl heraus eine rabiate Laienspielgruppe an die Macht zu wählen. Statt der versprochenen Stärke erleben die Amerikaner vor allem eins: Inkompetenz und Chaos. Vermutlich ist es das Einzige, wofür wir Donald Trump dankbar sein sollten: Dass er den Unzufriedenen in Europa die Illusion nimmt, es wäre eine gute Idee, sein Kreuz aus Zorn beim Lautesten zu machen.

Dieses Gespräch ist der erste Teil einer Interviewserie auf SZ.de, in der vier Intellektuelle den Bundestagswahlkampf beobachten: Neben Thea Dorn werden in den nächsten Monaten der Philosoph Michael Hampe, die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling und der Historiker Martin H. Geyer regelmäßig darüber sprechen, was sie und Deutschland in diesem Wahljahr bewegt.

© SZ vom 26.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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