Schriftsteller Thomas Pynchon wird 70:Der große Unbekannte

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Von diesem Mann gibt es kaum Fotos. Irgendwann tauchte er einfach unter. Einmal gelang es einem Fernsehteam, ihn aufzuspüren - es musste unverrichteter Dinge wieder abziehen. Nun wird Thomas Pynchon 70. Auf den Spuren eines Gesichtslosen.

Burkhard Müller

Die Welt hat Raum für genau eine Zelebrität, die ausschließlich durch ihre Abwesenheit präsent ist; und zwar für Thomas Pynchon. Wer sonst gar nichts von ihm weiß, der weiß doch dies: Das ist der Mann, von dem es kein Bild gibt. Höchstens zwei oder drei aus seiner frühen Jugend, die aber nicht wirklich zählen, weil er da noch nicht bei sich, noch kein Schriftsteller war.

Dies ist eins der seltenen Fotos aus seiner Jugend. Wie Thomas Pynchon jetzt aussieht, ist nicht bekannt. (Foto: Foto: oh)

Sein Lehrmeister Nabokov (genauer gesagt, dessen Frau) erinnerte sich an die auffällige Handschrift des Studenten im Creative-Writing-Seminar; wie das Gesicht aussah, war ihnen entfallen. Pynchon spielt mit dieser konzentrierten Absenz, er leiht seine Stimme und seinen Namen einer Figur in der Comicserie "Die Simpsons" - aber die muss über dem Kopf eine Papiertüte mit aufgemaltem Fragezeichen tragen.

Non-Logo

Wie ist er an diesen Part, an dieses eigenwillige Non-Logo gekommen? War es eine natürliche Schüchternheit, die irgendwann unbemerkt die Schwelle zum Spleen und zum Grundsatz überquert hatte? Oder die Bescheidenheit eines Schreibenden, der ganz hinter dem Geschriebenen zurücktreten wollte und plötzlich fand, dass genau das Gegenteil geschehen war und sein persönliches Mysterium das Werk überschattet?

Dabei scheint an seinem Leben eigentlich wenig Geheimnisvolles zu sein. Er wird 1937 in dem kleinen Ort Glen Cove auf Long Island geboren, seine Familie gehört zu den alteingesessenen Puritanern der Ostküste; er besucht die High School, beginnt ein Studium der Physik, sattelt um auf englische Literatur, unterbricht sein Studium für zwei Jahre, um in der Navy zu dienen. Eine Zeitlang lebt er danach in Greenwich Village in Manhattan, wo sich die Künstler der Zeit zusammenfanden, arbeitet dann als technischer Redakteur für Boeing - ja, und dann, spätestens 1963, taucht er unter.

Bekannt ist, dass er mit seiner Agentin Melanie Jackson verheiratet ist und dass sie einen Sohn haben; vermutlich leben sie in New York. 1997 gelang es einem Fernsehteam, ihn aufzuspüren; Pynchon aber verbat es sich mit größter Energie, fotografiert zu werden, und mit Erfolg. (Der gleichermaßen kamerascheue Autor Salinger zog etwas früher bei ähnlicher Gelegenheit den Kürzeren: das Bild eines wütend gestikulierenden alten Mannes mit Einkaufswagen ging um die Welt.)

Im Dunstkreis des Geheimnisses

Pynchons Bücher aber haben sich immer im Dunstkreis des Geheimnisses bewegt, eines Geheimnisses, von dem es unausgemacht blieb, ob ihm eigentlich ein entschleierbarer Sachverhalt korrespondiert. Verschwörungen, Geheimorganisationen, parapsychologische Phänomene, rätselhafte Frauen - sie alle liefern ihm nur den Vorwand des Fortgangs überhaupt, der jeweilige Roman folgt ihnen wie der Neigung eines sanft abschüssigen Pfads; immer geht es voran, doch es kommt dabei nicht zu Überstürzungen.

"Die Versteigerung von No. 49", seinem ersten Roman, kreiste um das Phantasma einer Untergrund-Post mit dem schönen Namen "Tristero", ihr Emblem war das Posthorn mit dem Dämpfer, der in die Schallöffnung eingeschoben war. In "V" entzog sich die Trägerin dieses Monogramms wie eine Fata Morgana dem ihrer Spur hinterherreisenden Helden, der davon träumte, sie könnte seine Mutter gewesen sein. "Die Enden der Parabel" hatte es mit den deutschen V2-Waffen zu tun, die im London des Jahres 1944 niedergingen - doch was hatte es zu bedeuten, dass einer der Protagonisten ihren scheinbar wahllosen Einschlag mit einer Erektion prophezeien musste?

Pynchon hat zwar dicke, aber nicht gar so viele Bücher geschrieben - außer den genannten noch einen Band Kurzgeschichten, dann "Vineland", das in den verregneten Wäldern des nördlichen Kalifornien seinen Ausgang nahm, vor ungefähr zehn Jahren dann "Mason & Dixon", im Amerika des 18. Jahrhunderts beheimatet; und gerade eben vor ein paar Monaten "Against the Day".

Hang zum Absurden

Das macht im Schnitt alle sieben Jahre einen Band. Aber der hat es dafür in sich. Als "Against the Day" herauskam, suchten die Rezensenten, die doch gehalten sind, rasch zu reagieren, nach Mitteln und Wegen, Zeit zu schinden; einige entschieden sich ihrerseits für eine Art Fortsetzungsroman in Einzellieferungen oder eine Art sukzessiven Reisebericht.

Pynchon kann es dem unerfahrenen Leser schwer machen - aber auf andere Weise als Beckett oder Joyce. Inhaltsangaben der Romane, der jüngeren jedenfalls, sind ein hoffnungsloses Unterfangen; höchstens lassen sich einige der wichtigsten Personen beim Namen nennen, ein paar Schauplätze und die ungefähre Epoche. Da ist Pynchon nie kleinlich; mehrere Jahrzehnte und den ganzen Globus, über den er nach Belieben springt, hält er für eben ausreichend. Den Globus übrigens von beiden Seiten, der inneren und der äußeren; wiederholt gibt Pynchon der Hohlwelt-Theorie Raum: Die kommt seinem Hang zu Absurditäten mit den ernsten Mienen der Wissenschaft sehr entgegen. Die "Chums of Chance" in seinem letzten Buch treten mit ihrem Luftschiff am Nordpol in den Hohlraum ein - und am anderen Ende wieder aus. Ist das Humor? Man sollte nicht darauf wetten.

Lust an der Willkür

Pynchons Bücher ziehen vorüber wie Wolken, die den unwiderstehlichen Drang auslösen, in ihrer höchst plastischen Form Gestalten zu erblicken, Muster hineinzusehen; dabei sind es einfach Wolken, deren veränderliche Komplexität auf nichts weiter verweist als auf sich selbst. Als "postmodernen Dädalus" ehrt ihn eine Fan-Seite im Internet: Dädalus, der Erfinder des Labyrinths, dessen Daseinszweck nicht im Ziel, sondern in der Windung besteht. Kabbalistik, Astrologie, Alchemie, Ballistik, Geisterbeschwörung und ähnliche Fächer zieht Pynchon in großen Mengen heran, jedoch ausschließlich als Hilfsdisziplinen der Materialvermehrung. Seine große Lust besteht in der Willkür, mit der er über dies alles verfügt, auch über seine Figuren.

Liebhaber von Charakterstudien werden sich von Pynchon allemal enttäuscht finden; seine Charaktere sind sämtlich so bunt wie seicht. Das müssen sie auch sein, sonst könnte der Autor mit ihnen ja nicht spielen wie die Katze mit der Maus. Alle Naselang müssen sie aus ihrem Leben heraustreten und wie in der Operette schmissige Couplets über sich selbst singen. Wo kommen plötzlich Musik und Choreografie her? Na, aus der Allmacht des Autors natürlich! Er sorgt dafür, dass man das nie vergisst.

Dieses Spiel ist nicht eigentlich artistisch; eher ähnelt es den Spielen, in die man sich auf seinem Computer verwickeln kann. Bei aller Raffinesse haftet Pynchons Schreiben etwas fortdauernd Juveniles an, das in seinen späteren Werken immer deutlicher und selbstherrlicher hervortritt. "Against the Day" darf auf der einen Seite als ein absoluter Gipfelpunkt von Pynchons Schaffen gelten, in einem beispiellosen lexikalischen und syntaktischem Reichtum schwelgend, poetisch in seinen Schilderungen, witzig und zugespitzt in den Anekdoten - und dennoch bleibt zum Schluss das schale Gefühl, dass sich alles wie ein Zyklon um eine leere Mitte dreht. Pynchons nächstes Buch, heißt es, sei bereits in Arbeit. Wird es aus diesem rasenden Stillstand herausfinden? Man wünscht es ihm sehr.

Trotziger Überschwang

Am besten ist Pynchon dort, wo er trotzig auf der Lebensechtheit seiner artifiziellen Welten beharrt und allen Überschwang auffährt, um es zu beweisen. Das London des Jahres 44 zittert vor dem Tod aus den Lüften - was hilft dagegen? Bananen! Und zwar so: "Nun breitet sich durch alle Räume der zarte Bananenduft des Frühstücks aus, verdrängt den kalten Rauch, den Schweiß- und Alkoholgeruch der vergangenen Nacht:

blumig, alles durchdringend, überraschend, mehr als die Farbe winterlichen Sonnenlichts, überwältigend nicht durch Schärfe oder Intensität, sondern durch die Raffinesse seines Molekülgewebes, teilhaftig der Geheimnisse des alten Zauberers, durch die - selbst wenn dem Tod nur selten deutlicher geraten wird, sich zu verpissen - die lebendigen Ketten der Gene sich als labyrinthisch genug erweisen, ein menschliches Gesicht zehn oder zwanzig Lebensalter weit zu bewahren. . . es ist die gleiche Selbstbehauptungskraft-Struktur, die den Bananenduft dieses Kriegsmorgens befähigt, durch die Luft zu mäandrieren, sie zurückzuerobern und zu beherrschen. Gibt es irgendeinen vernünftigen Grund, jetzt nicht alle Fenster aufzureißen und das freundliche Aroma ganz Chelsea zudecken zu lassen? Als Zauberbann, zum Schutz vor fallenden Objekten. . ."

Viel, wie gesagt, weiß man nicht über Pynchon. Aber eines lässt sich dennoch mit absoluter Gewissheit sagen: Am heutigen 8. Mai feiert er seinen siebzigsten Geburtstag.

© SZ vom 8.5.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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