Schriftsteller Rainald Goetz:Simultandolmetscher des Jetzt

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Der "Pop-Literat" Rainald Goetz bewegt sich im Spannungsfeld zwischen beneidetem Künstler - und der Rolle als Hofnarr des Kulturbetriebs. Das spiegelt sich auch in seinen Büchern wider.

A. Bernard

Auf dem Herbstempfang der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dem zentralen Schauplatz in Rainald Goetz' neuem Buch "Loslabern", gerät der Schriftsteller zweimal in Legitimierungsnot. Als er am Rande des Ehrentisches mit der Bundeskanzlerin steht und sich in seinem kleinen Schreibheft Notizen macht, wird einer der Personenschützer auf ihn aufmerksam: "Der Polizist rechts von mir beobachtete mein Agieren stetig", schreibt Goetz, und er verstaut das Heft für den Rest des Abends in seiner Hosentasche.

Für den Autor Rainald Goetz passen "Macht und Text" nicht zusammen. (Foto: Foto: Suhrkamp Verlag)

Später wird er von dem FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, an dem er sich mit seinen Texten seit zwanzig Jahren abarbeitet, mit dem Vorwurf aufgehalten, er habe sich auf diesem Empfang wohl "eingeschlichen", im "Schlepptau irgendwelcher berühmter Frauen", und Goetz zieht als Reaktion auf diese Unterstellung die Einladungskarte aus seinem Jackett, um seine rechtmäßige Anwesenheit zu dokumentieren.

Doppelposition des Künstlers

Der Dichter als polizeilich Verdächtiger und als Eindringling im Innern des politischen und publizistischen Lebens: Eine der Grundbedingungen des Schreibens von Rainald Goetz, zumindest seit seinem Internet-Tagebuch "Abfall für alle" von 1998, findet in diesen beiden Szenen ihr gültiges Bild.

Es geht um die Konfrontation des keiner Institution zugehörigen Autors, des "freien Schriftstellers", wie es in Kurzbiographien auf Buchrücken gerne heißt, mit den Sphären der Macht. Goetz hat sich für diese Aufeinandertreffen in seinen letzten Büchern immer wieder interessiert, für die klassische Doppelposition des Künstlers gegenüber den Eingebundenen und Arrivierten: gleichermaßen beneidet um das Privileg der rein schöpferischen Existenz und belächelt für seine Unzugehörigkeit, sein Hofnarrentum im Kulturbetrieb.

Er selbst teilt sich diese Position inzwischen fast emphatisch zu: "Macht und Text passen nicht zusammen", sagte er schon vor zehn Jahren in einem Interview; und in "Loslabern" heißt es einmal, er stehe "zwischen den Büchern, in der Sprache, anstatt in der Welt".

Was sich in den mikroskopischen Berichten aus dem Kultur- und Politikbetrieb immer wieder zeigen soll, ist vor allem die Funktions- und Äußerungsweise von Machtbeziehungen, deren Niederschlag noch in den unscheinbarsten Gesten und Körperordnungen sichtbar wird. Die Beschreibung dieser Körperordnungen gehörte in Goetz' jüngeren Büchern stets zu den eindrucksvollsten Passagen: die herablassende Art, wie Harald Schmidt dem Bandleader Helmut Zerlett zu Beginn jeder Show die Hand schüttelt; die Unfähigkeit Joschka Fischers, sich in einem öffentlichen Raum zu bewegen, in dem die Menschen nicht sofort auf seine Prominenz reagieren; oder die feinen Regeln, wer im hierarchiegeleiteten Sprechen in Politik oder Journalismus wen anreden darf: "Gespräch stellt Ebenengleichheit her, die der Unter dem Ober nicht in jedem Fall aufdrängen darf."

Nachtleben als zentrales Sujet

Häufig hat Rainald Goetz auf die Bedeutung Michel Foucaults für sein Schreiben hingewiesen, und gerade an Stellen wie diesen wird die Verbindung deutlich sichtbar: Goetz transportiert jene "Mikrophysik der Macht", deren Analyse Foucault in die Geschichtsschreibung eingeführt hat, vom 19. ins 21. Jahrhundert, verwandelt sie von Theorie in erzählende Literatur.

Nach wie vor, ein gutes Vierteljahrhundert nach dem Erscheinen seines Debütromans "Irre", wird Rainald Goetz mit dem verblichenen Etikett des "Pop-Autors" versehen. Große Teile der literarisch interessierten Öffentlichkeit scheinen seine Texte gar nicht wahrzunehmen ("das ist doch der, der sich in Klagenfurt mal die Stirn aufgeritzt hat", lautet immer noch ein Standardsatz).

Und die Protagonisten des Literatur- und Journalismusbetriebs wiederum, in ständiger Aufregung, in den Büchern vielleicht selbst vorzukommen, überfliegen die Texte eher fieberhaft, als dass sie sie wirklich lesen würden, immer auf der Suche nach bekannten Namen - ungefähr so, wie man in einem pornographischen Roman nach den Sexstellen fahndet. Nicht umsonst hört man in diesen Kreisen oft die Bemerkung, ein Personenverzeichnis am Ende der Bücher wäre wünschenswert.

Doch auch wenn Goetz' zentrales Sujet weiterhin das Nachtleben ist, auch wenn er in "Loslabern" die jahrzehntelange Arbeit als Simultandolmetscher des Jetzt fortsetzt: Die Eindringlichkeit seines Schreibens hängt gerade mit dem tiefen Referenzraum seiner Poetologie zusammen, mit dem ständig präsenten Gespräch mit anderen Schriftstellern und Theoretikern, von Hölderlin bis Adorno, von Novalis bis Handke.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum für das Werk des Autors Rainald Goetz Interviews von großer Bedeutung sind.

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"Pop" hat ja immer eine Antithese zur hochkulturellen Tradition gebildet; es ging um das Wegwischen von Geschichte. Doch für Goetz gilt mittlerweile eher das Gegenteil: Unter den zeitgenössischen Schriftstellern ist er derjenige, der mit unvergleichlichem Ernst die ästhetischen und poetologischen Fragen der letzten zweihundert Jahre weiterdenkt und auf die Gegenwart hin befragt.

Besonders anschaulich wird diese Eingebundenheit in die literarische Tradition an seiner Konzeption des dichterischen "Werks". Der brüchige Status dieser Kategorie ist mittlerweile im letzten Germanistik-Proseminar zum Allgemeinplatz geworden; Goetz jedoch fügt, wie man auf dem Deckblatt seiner Bücher nachlesen kann, alle bisherigen Veröffentlichungen zu einer Art natürlichem Stammbaum zusammen, von "1. Irre, Roman" bis zu "Loslabern", dem zweiten Teil des sechsten Werkzyklus namens "Schlucht".

Konjunktur des Konventionellen

Mit dieser Ordnung ist nicht zuletzt die Vorstellung verbunden, dass es im Werk des Autors nichts Zerstreutes oder Marginales geben möge. Alles ist gleich weit vom heißen Kern des Schreibens entfernt - eine Idee, die Rainald Goetz einmal mit den Worten postuliert hat: "Für mich ist jede Interviewäußerung gleich wichtig wie die heiligste Zeile in einem poetischen Werk."

In der deutschsprachigen Erzählliteratur herrscht seit zehn, fünfzehn Jahren eine merkwürdige Konjunktur des Konventionellen. Die "Lesbarkeit" von Romanen ist oberstes Gebot; unablässig kursieren in der Kritik wie im Buchhandel die traurigen Reden von der Notwendigkeit "überzeugender Plots" und "anschaulich gemachter Figuren". Dem immergleichen Diktum folgend, dass die angelsächsische Literatur die versiertere Erzählkunst hervorbringt, erscheinen Jahr für Jahr dieselben Baukasten-Romane, geschrieben von selbstgewissen Literaturinstituts-Absolventen, die ihr Handwerk gelernt haben und eine Geschichte flüssig erzählen können.

Rainald Goetz ist zweifellos einer der ganz wenigen Autoren, die an einem vollkommen anderen Verständnis von Literatur festhalten, an einem Schreiben, das die Nahtstellen zwischen Erfahrung und Text ständig freilegt, das die Reflexion über das Schreiben immer schon enthält (in "Loslabern" nennt er das seine "all-in-one-Literatur"). Die Frage "Wie schreiben?" durchzieht jede Zeile seiner Bücher.

Nichts über Kindheit, Familie, Liebe

Von dieser Selbstbefragung aus sind auch die auffälligen thematischen Leerstellen in Goetz' Büchern zu verstehen - nichts über Kindheit, Familie, Liebe; ausgeblendet gerade die vertrautesten Sujets der Erzählliteratur. Es hängt mit Goetz' tiefen Skrupeln gegenüber verbrauchten, falsch konnotierten Sprachsphären zusammen, dass diese Lücken weiterhin bestehen. Ein heutiger Proust klänge zwangsläufig wie Cosmopolitan, heißt es in seinem Buch "Klage" einmal, und in einem Interview fällt der Satz: "Die Welt der Seele ist komplett zugemüllt von den gepanzerten Standards der Frauenzeitschriften-Welt."

In "Klage" gibt es einige ergreifende Passagen, in denen deutlich wird, dass Rainald Goetz in den Jahren zwischen 2000 und 2007, in denen er nichts veröffentlichte, vergeblich versucht hat, einen Familienroman zu schreiben. Und es ist beinahe von trauriger Folgerichtigkeit, dass ein Schriftsteller, der sich wie kein Zweiter mit dem Problem der Schreibweise auseinandersetzt, an dem Projekt, einen "möglichst traditionell erzählerischen Roman" zu verfassen, am Ende scheitert.

Wenn der Eindruck nicht täuscht, gibt es nur einen einzigen, ganz frühen Text von Rainald Goetz, in dem er über längere Passagen hinweg seine eigene Kindheit und Familie zum Thema macht, die großartigen Aufzeichnungen "Der macht seinen Weg" in einem Kursbuch zum Thema "Jugend" von 1978.

Untrennbar verbunden mit dem "Wie schreiben?" ist schließlich eine zweite Frage, die immer wieder die Texte von Goetz bestimmt: das Problem der Position des Autors. "Pop-Literatur" hieß ja immer auch, dass sie von Leuten gemacht wird, die von drinnen berichten, die integraler Teil jener Partys, Empfänge, Premieren sind, über die sie schreiben.

Romantische Rückzugsphantasien

Die Ambition, auf dem neuesten Stand zu sein, so informiert wie möglich zu bleiben, ist bei Rainald Goetz weiterhin zu spüren. Doch das Interessante an seiner Literatur besteht gerade darin, dass sich diese Ambition mit einer Emphase des Draußen vereint, mit jenen fast romantischen Rückzugsphantasien, welche ihn in die Nähe von Schriftstellern rücken, die im Spektrum der deutschen Literatur seit langem am anderen Ende des Pop stehen.

Nicht umsonst sind es immer wieder zwei Namen, die in "Abfall für alle", "Klage" und "Loslabern" fallen: Peter Handke und Botho Strauß. "Auf der Suche nach einer nichtlächerlichen Autorposition" landet Goetz regelmäßig bei diesen beiden Schriftstellern, und es ist erkennbar, dass der Handke vor Ende der siebziger, der Strauß vor Mitte der achtziger Jahre entscheidende Orientierungspunkte für ihn sind.

Den späteren Weg dieser Autoren, von den großstädtischen Literatur- und Theatermilieus in den Rückzug, in die französischen und uckermärkischen Wälder, kommentiert Goetz an zahlreichen Stellen mit aller Häme, nennt diese Entscheidung "Schwachsinn", "Privatroman", "Reden mit Pilzen und Bäumen".

Aus der Hartnäckigkeit aber, mit der er diese beiden Biographien in seinen neueren Büchern verfolgt, spricht auch eine große Nähe. Die Radikalität der künstlerischen Existenz, um die es ihm geht, findet in diesen beiden Figuren ein so faszinierendes wie verachtenswertes Lebensmodell. Manchmal scheint es fast, als wäre die Wucht, mit der sich der nun 55-Jährige Rainald Goetz weiterhin Nacht für Nacht in die Gegenwart wirft, von der Ahnung getrieben, dass er, wenn er sich nur ein wenig gehen ließe, auch lieber Pilze sammeln würde.

© SZaW vom 10.10.2009/jobr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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