Schreiben für Magazine:Auf dem Scheitelpunkt der Scheußlichkeit

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"Spaß an der Sache": David Foster Wallace schrieb viele Essays über Themen wie Kino, Porno, Politik, Fußnoten und Tennis. Jetzt liegen sie alle gesammelt in einem tausendseitigen Band vor.

Von Jens-Christian Rabe

Natürlich hat kein Leser auf die über 1000-seitige Neuauflage aller Essays von David Foster Wallace gewartet, die sein preisgekrönter deutscher Übersetzer Ulrich Blumenbach zusammengestellt hat. Jeder der 33 Essays, die Wallace zwischen 1990 und 2008, dem Jahr seines Selbstmords, für amerikanische Zeitschriften und Sammelbände verfasste, liegt in irgendeinem Sammelband längst vor. Andererseits war David Foster Wallace nicht irgendein Autor, sondern spätestens seit seinem 1996 erschienenen Opus magnum "Unendlicher Spaß" einer der berühmtesten und einflussreichsten Schriftsteller der Welt, ein Literatur-Star - und als Essayist ein so furchtloser wie gefeierter Beobachter und Analytiker vor allem auch der niedrigeren kulturellen Umtriebe seiner Zeit, des Fernsehens, des Hollywood-Kinos, der Pornoindustrie, des Tourismus oder der Politik. Ein großer Überblick, zudem wenn er so umsichtig thematisch geordnet ist wie dieser, ist dann auch eine echte Chance zur Prüfung. Können die Essays vor unserer Gegenwart immer noch bestehen - und besteht unsere Gegenwart eigentlich gegenüber diesen Essays?

In ganzer Pracht ist auf jeden Fall noch einmal zu bestaunen, was Wallace auch als Essayisten so viele Verehrer unter den eigenen Freunden, den Kollegen und Kritikern, den Kulturjournalisten und Kulturwissenschaftlern einbrachte: das wache, blitzgescheite Auge auf die Höhen und Tiefen der Kunst des Schreibens, seine harte Medienkritik, seine Begeisterung für Sprach- und Wortnuancen aller Art und natürlich das erbarmungslos Selbstreflexive seiner Texte, wenn er etwa - wie im 1998 für ein kleines Schriftsteller-Magazin verfassten Essay "Der Spaß an der Sache" - ein Buchprojekt mit einem missgebildeten Kind vergleicht und schreibt: "Die ganze Angelegenheit ist total verkorkst und traurig, gleichzeitig aber auch zärtlich, bewegend und cool - irgendwie ist es ja eine echte Beziehung -, und selbst auf dem Scheitelpunkt seiner Scheußlichkeit berührt und weckt das entstellte Kind etwas in einem, das man selbst für die besten Teile seiner selbst hält: mütterliche und dunkle Teile."

Allerdings verblüfft ebenso immer wieder die gelegentlich erstaunlich schamlose Offenheit, mit der Wallace sich zu seinem Geltungsbedürfnis bekannte, um dann - sei es in großen Essays oder Talk-Sendungen - zu bemerken, wie wenig ihn der Ruhm schließlich doch befriedigt habe, wie traurig alles letztlich trotzdem sei. Im ersten Moment und bei hinreichend narzisstischen Lesern (aus der Verlags- und Medien-Branche zum Beispiel) geht das womöglich als Demut durch. Bei etwas stabileren Charakteren, die sich im Angesicht des Universums über ihre grundsätzliche Nichtigkeit nicht ganz so stark wundern können, wirkt es bei einem so intelligenten Mann doch eher manisch prätentiös (auch wenn man zur Verteidigung von Wallace hier nicht verschweigen darf, dass er Zeit seines Leben unter schweren Depressionen litt).

Er begleitet einen durch seine Themen und Thesen wie ein Museumsführer. Man folgt seinen Gedanken besser ohne Ordnungszwang

Um in dieser Ego-Kränkung eine der großen ewigen Wahrheiten zu wittern, die nur die Literatur auszudrücken vermag, muss man sehr selbstbewusst und sehr naiv durch die Welt laufen. Man sehe sich nur einmal in "Schrecklich amüsant - aber in Zukunft ohne mich", erschienen im Magazin Harper's 1996, die Erklärung dafür an, warum alle Kreuzfahrten etwas "unerträglich Trauriges" umgebe: "An Bord der Nadir überkam mich - vor allem nachts, wenn der beruhigende Spaß- und Lärmpegel seinen Tiefpunkt erreichte - regelrecht Verzweiflung. Zugegeben, das Wort Verzweiflung klingt mittlerweile ziemlich abgegriffen, doch es ist ein ernstes Wort, und ich verwende es im Ernst." Für ihn bedeute Verzweiflung nämlich "Todessehnsucht, aber verbunden mit dem vernichtenden Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit".

Elend sei vielleicht der bessere Ausdruck. "Man möchte sterben, um der Wahrheit nicht ins Auge blicken zu müssen, der Wahrheit nämlich, dass man nichts weiter ist als klein, schwach und egoistisch - und dass man mit absoluter Sicherheit irgendwann sterben wird. In solchen Stunden möchte man am liebsten über Bord springen." An solchen Stellen merkt man leider auch, wie schlecht manches (und manchmal sogar das Berühmteste) gealtert ist. Und wie wenig häufig stimmt, was der sonst grandiose Übersetzer Blumenbach in seiner Einleitung bemerkt, dass Wallace vor allem Befindlichkeiten und Mentalitäten verstehen und herausfinden wollte, warum die "Amerikaner tickten, wie sie tickten".

Schon richtig, er ging dahin, wo es weh tat. Aber eine ungnädige große Vivisektion des organisierten Vergnügens auf gigantischen Kreuzfahrt-Schiffen liest sich inzwischen eher etwas wohlfeil. So schön und genau erzählt hat sie seither freilich niemand mehr.

Bestens lässt sich mit dieser Sammlung auch noch einmal der eindrucksvoll sture Irrwitz besichtigen, mit dem Wallace versuchte, die Fußnote für den modernen literarischen Magazinjournalismus zu rehabilitieren. Besonders schön ist es da, wo sich Fußnoten zu sehr klein gedruckten mittelgroßen, in die Fußnoten der nächsten Seite herüberwachsenden Parallel-Essays auswachsen, es sogar Fußnoten in Klammern oder zu Fußnoten gibt und man gar nicht mehr so sicher ist, ob es wirklich stimmt, dass David Foster Wallace ein großer Kämpfer gegen die Ironie war. Denn das konnte ja unmöglich sein Ernst sein. Fußnoten in Klammern? Fußnoten zu Fußnoten?

Um das mit dem Vergnügen lesen zu können, das es oft verdient, hilft es, sich in einen Zustand größtmöglicher Neugier und geringstmögliche Ungeduld zu versetzen. Wallace begleitet einen durch seine Themen und Thesen nämlich eher wie ein Museumsführer. Seinen Gedanken und Beschreibungen folgt man besser ohne Ordnungszwang und allzu konventionelle dramaturgische Ansprüche, dafür aber mit Begeisterung für stolze Detail- und Vergleichswut aller Art. Dann sind die Fußnoten nicht Ablenkung vom Eigentlichen, Megastaudämme im Lesefluss, sondern geheimnisvolle Nebenräume, in die man noch unbedingt reinschauen muss, wenn man schon mal da ist, aha, interessant, dass weiß er also auch noch über die "ephemeren Tics" von Tennisprofis beim Aufschlag zu berichten: "Schauen Sie nur wie sich Sampras linke Fußspitze leicht hebt, wenn er den Ball hochwirft, als hätte er plötzlich heiße Zehen bekommen."

Oder: "McEnroes bizarre Aufschlaghaltung mit gespreizten Beinen, die Füße parallel zur Grundlinie und die Seite so schräg zum Netz, dass er an Figuren auf ägyptischen Friesen erinnert". Oder: "Edbergs seltsame Angewohnheit, beim Wurf noch schnell den Griff am Schläger zu wechseln und vom Semi-Eastern zum Extreme-Eastern überzugehen, als wäre der Schläger eine Bratpfanne". Oder Enqvists Angewohnheit, sich beim Werfen nach hinten zu krümmen, "als wolle er sich per Rückwärtslimbo vom Ball entfernen, weil der plötzlich übel riecht oder so". Oder, oder, oder, oder.

Die Schleichwege und Trampelpfade, auf die man von ihm beim Lesen geführt wird, fesseln freilich auch, weil sie mit den Texthauptstraßen der typische Foster-Wallace-Stil verbindet, diese verrückt eloquente Mischung aus hohem und niederen Ton, aus analytischer Präzision und ganz lockerem, aber doch nie gedankenlosem Kumpeln. Studenten "schnallen" dann etwa Kafkas Humor nicht, sie tun es aber, weil "wir ihnen beigebracht haben, Humor als etwas anzusehen, das man einfach ,schnallt'." Kein Wunder, dass sie so Kafkas "eigentlichen Witz" nicht würdigen könnten, dass nämlich "die schreckliche Plackerei, eine menschliche Identität auszubilden, zu einer Identität führt, deren Menschlichkeit untrennbar mit der schrecklichen Plackerei verbunden ist".

Foster Wallace war nicht einfach bloß kundig oder "im Thema". Das Wissen stand ihm bis zum Hals - und alles musste raus. Die gute Seite davon ist, dass er so auch mehr als einmal das ewige große Ziel des Essay-Schreibens erreicht. Man ist fast immer irgendwann bereit, die Dinge wirklich mit anderen, also mit David Foster Wallace' Augen zu sehen.

Das versöhnt auch mit dem Narzissten Wallace. Wie wenige Autoren vor und noch viel weniger Autoren nach ihm beherrschte er die Kunst, Non-Fiction so zu schreiben, dass man sich - ganz unmittelbar, während der Lektüre seiner Texte - tatsächlich etwas weniger als bloßer "Sklave des eigenen Kopfes" und dessen "angeborener Standardeinstellung" fühlte. Und als etwas sensiblerer, offenerer und freierer Mensch als zuvor.

© SZ vom 09.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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