Schottischer Erzählfuror:"Es war die schlechteste aller Zeiten"

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Insel im Sturm, aber kein Brexit-Roman: Ali Smith zieht in "Herbst" mit Ovid und Shakespeare gegen die Welt der Zäune und ihre Wachmannschaften zu Felde.

Von Hubert Winkels

In der Regel haben erzählende Bücher, Romane zumal, einen Anfang und ein Ende. Die Prunkstücke dieser linearen, progressiven Zeitordnung sind neben den historischen die Entwicklungs-, Bildungs- und Familienromane. Und da der alles fressende und vermeintlich alles könnende Roman gelegentlich auch sich selbst zu dekonstruieren versucht, gibt es auch etliche sozusagen "nonlineare" Versuche, experimentelle Prosa der besonderen Art.

Als Meisterin solcher Neuverspannungen des Genres schreibt die Schottin Ali Smith seit einem Vierteljahrhundert die tollsten Romanexperimente, weitgehend unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit, in Großbritannien und in jüngster Zeit auch in der restlichen englischsprachigen Welt mit erstaunlichem Erfolg. Das gekonnte Handhaben der ständigen Perspektivwechsel, Zeitsprünge, unterschiedlichsten Bildsphären und personalen Identitäten erzeugt, für sich genommen, eher kühle Bewunderung (und manchmal Abwehr) als Sympathie. Was hier aber einen Wärmestrom aus der artistischen Prosa hervorbrechen lässt, sind die inhaltlichen Entsprechungen zu den hybriden Textverfahren, die Wandlungen des Geschlechts, ja der biologischen Gattung überhaupt, die Versatilität der Dingwelt, die Hybridbildungen von Mensch, Natur und Kunst. Das wirkt sehr heutig, ist aber wesentlich von Ovids "Metamorphosen" und dem fantastisch ausschweifenden Shakespeare inspiriert.

Damit ist auch schon der zweite Wärme erzeugende Zug in Ali Smith' Prosa benannt. Die permanente Verwandlung hat bei ihr einen philosophisch-poetologischen Untergrund. Der Wandel ist paradoxerweise das Erste, ist vor allem Gegebenen selbst am Werk, er ist das alles beseelende Prinzip nicht nur unserer symbolischen Kommunikation, sondern der gesamten Schöpfung. Mit dieser Grenzen auflösenden metabolischen Kraft geht Ali Smith mit nachdrücklicher Sanftheit um. Sie wird weder dekretiert, noch wird mit ihr missioniert. Schaut her, sagt sie, schaut nur in den Kelch der Blüte, die sich öffnet noch im beginnenden Winter (das Schlussbild in "Herbst"). Es ist das romantische Bild des Lebens als Grund von allem, das doch immer nur in seiner konkreten Erscheinung sinnlich zu fassen ist.

Ein schöner Beleg für dieses Verfahren sind ihre Oxford Lectures, die Poetikvorlesungen, 2012 in England, 2017 bei uns unter dem Titel "Wem erzähle ich das?"erschienen. Darin trauert eine Erzählerin in ihrer Stube voller Bücher um ihre(n) Geliebte(n), beginnt ihr vorzulesen, tritt dann ins Gespräch mit dem wieder auferstehenden Geliebten, auch mit den Figuren und Szenen der Bücher, bis sich der literarische mit dem imaginären und dem realen Kosmos ununterscheidbar verbindet. Das ist die Erzählwelt und -weise der Ali Smith, auch in diesem Roman "Herbst" (2016/2019) und seinen auf Englisch schon zu lesenden Nachfolgern "Winter" (2017) und "Frühling" (2019).

Mit diesen scheinbaren Präliminarien sind wir auch schon tiefer eingedrungen in die Textur von "Herbst". Der Anfang des Romans setzt sein Ende bereits voraus. An eben diesem Ende fragt der einhunderteins Jahre alte Daniel Gluck, aus seinem Tiefschlaf erwachend, die junge Besucherin Elisabeth Demand als Erstes und wie immer: "Was liest du gerade?" Beide existieren, symbiotisch miteinander verbunden, in einem eigenen Erzählreich.

"Daniel Gluck sieht vom Tod zum Leben und dann wieder zum Tod."

Alt und schwach ist Gluck auf den letzten Seiten, kurz vor dem Tod. Doch auf den furiosen ersten zehn Seiten des Romans ist er dabei, von den Toten aufzuerstehen. Ein nasser Ledersack, so wird er angespült an einem leeren Strand, ein Sprechen regt sich, erst handelt es von Gluck in der dritten Person, bald schon wandelt es sich zur erlebten Rede, geht über in den inneren Monolog, schließlich adressiert er sich an sich selbst. Eine Welt entsteht in einer Kaskade von Erzählformen, bis sich der Auferstandene als Toter selbst begegnet. "Daniel Gluck sieht vom Tod zum Leben und dann wieder zum Tod. Die Traurigkeit der Welt. Noch auf der Welt, eindeutig. Er sieht an seinem Laubmantel herunter, immer noch grün."

Aus Nacktheitsscham hat sich der in ewiger Wiederkehr Auferstandene einen Mantel aus Laub genäht. Er verwandelt sich in einen Baum, ein Ovidmotiv zweifellos. Wenn wir Daniel Gluck aber ein paar Dutzend Seiten später wiederbegegnen, dann ist er Teil einer Kiefer, eingezwängt in den Stamm diese Nadelbaums und spricht aus dem Holz heraus. Und damit wären wir bei Shakespeares "Sturm" wo der Luftgeist Ariel, der herrlich verwirrende Wandler, zu Beginn in einer Kiefer feststeckt, aus der ihn der verbannte Prospero befreit. Wir sind im Reich der Magier und Zauberer. In den folgenden Romanen des literarischen Jahreszeitenquartettes der Ali Smith fungieren dann Shakespeares "Cymbeline" ("Winter") und "Perikles" ("Spring") als Referenztexte, alle drei literaturhistorisch den Shakespeareschen "Romanzen", den Zauber- und Märchenstücken zugerechnet.

Eine Zwischenfrage muss an dieser Stelle wohl beantwortet werden. Warum gilt "Herbst" (und die gesamte Tetralogie) als "Brexit-Roman"? Erster Teil der Antwort: Es ist keiner. Zweiter Teil: Ali Smith hat selbst von Brexit als ihrem Thema gesprochen und damit willentlich oder unfreiwillig eine Art Test provoziert, der offenbart, wie ein vorgegebenes oder eingeflüstertes Erkenntnisziel die Wahrnehmung von Text, Dramaturgie und Poesie bis hin zur absurden Verzerrung steuert. Aber sonst?

Aus lauter dystopischen Motiven entsteht ein Roman heitersten Gleitens und Springens

Natürlich kann man einige Passagen des Romans leicht auf die Brexit-Diskussion der vergangenen Jahre in Großbritannien beziehen - der Roman ist 2016 geschrieben und veröffentlicht! -, allerdings fast ebenso gut auch auf andere politische Systeme der Ausgrenzung, Radikalisierung und Intoleranz beziehen ("Spring" ist in dieser Hinsicht etwas eindeutiger).

Das wiederum liegt am Symbolcharakter der gesellschaftlichen Bezüge. Zwei, drei kabarettreife Szenen beleuchten die Identitätsneurose bei der Passbehörde oder bei der Anforderung des Persönlichkeitsnachweises. So gelingt es Elisabeth Demand nicht, den Maßanforderungen bezüglich der Kopfbreite auf einem Foto, dem Abstand zwischen den Augen oder dem Abstand von Haaren zum Gesicht exakt zu genügen.

Oder der Zaun, der sich durch die drei ersten Bände des Jahreszeitenquartetts zieht. Dass er Flüchtende einsperren soll, erfährt man am Rande. Er ist vor allem das Trennende schlechthin, ein Emblem für die Gegenwart. Und in jedem der bislang drei Romane taucht eine eher düstere Figur auf, die zur Wachmannschaft der Zaunwelt gehört, die den orwellhaften Namen SA4A trägt. An und mit dem Zaun erlebt die eher spießig-ängstliche Mutter der munteren Gluck-Freundin Elisabeth ihr spätes Coming-out. Erst ist sie bar jeden Verständnisses für die Neigung ihrer Tochter zu dem siebzig Jahre älteren Nachbarn Gluck und ohne jedes Verständnis für Kunst, Freiheit oder Schönheit überhaupt, doch wie durch ein Wunder gerät die Gegenwartsnärrin in den Sog der Vergangenheit.

Sie erinnert alte Songs und Filme, lernt eine einstmals berühmte Schauspielerin kennen und lieben, wird mit ihrem Spaß an Antiquitäten in eine Art "Bares für Rares"-Ratesendung erfolgreich eingeladen. Frisch befreit und frisch verpartnert ist es ausgerechnet diese old school mam, die ein Attentat auf den Zaun des Bösen begeht. Sie wirft voll Wut ein antikes Barometer in die Maschen, dass es zischt und dem Zaun der Strom ausgeht. Er ist ein Elektrozaun auch gegen Kinder. Und Mutters Begehr zum Ende des Romans ist es, weitere antike Requisiten ans segregierende Metall zu knallen. In alten Dingen verdichten sich Erzählungen, ganze Lebensgeschichten, und der Zaun ist ihr Tod, ein globaler Dementor. Nichts soll gezählt, gemessen sein, weder Zeit noch Gesichtsbreite oder gar die Luft ( Ariel!), alles ist erzählt, alles fließt, und im ewigen Gewisper der Worte hört man die Wachstumsschübe der Welt in ihrer permanenten Veränderung.

Es versteht sich, dass eine solche heraklitisch inspirierte Erzählphilosophie ein positives Verhältnis zum Sein als erzähltem hat. Die Konsequenz, mit der Ali Smith das austrägt, ist erstaunlich. Aus lauter dystopischen Motiven kann sie Romane heitersten Gleitens und Springens und Wandelns erzeugen, mit einer stillen Vision ewiger Konjunktionen, die nicht selten als schlichtes Happy End erscheinen. So ist auch der Brexit in "Herbst" schon in der bionarrativen Phase seiner Verwandlung in einen neuen besseren sozialen Organismus angekommen. Ein utopisches Potenzial, das den Smith'schen Wärmestrom weiter verstärkt.

Im Mittelpunkt jedes der Jahreszeitenromane steht eine Künstlerin

Und noch etwas gehört dazu, damit beim Fehlen einer konsistenten Handlung, der Ersetzung von Personen durch bewegliche Masken und Widergänger aus der Literaturgeschichte und bei dauernd wechselnden Erzählern Nähe entstehen kann. Ali Smith ist sehr am Adressaten interessiert, an uns, ihren Lesern und Zuhörern. Dieser beweglichen undurchsichtigen Größe will sie etwas ins Ohr flüstern, als vertraute Freundin, nichts Festes, Klares, Begrenztes, sondern eine flüssige, vielgestaltige Botschaft, die sich nur im Vollzug herstellt. Sie macht uns zu intimen Zeugen eines quasi-alchemistischen Vorgangs der Wortkombinatorik und Welterschaffung. Sie ist eine Freundin im eben beginnenden großen Akt der Rettung der Welt und des Schönen.

Das ist zweifellos eine idealtypische Nachzeichnung eines Verfahrens und eines Begehrens. Dass es eine Negativform dazu geben muss, dass man je nach Erwartung auch von Inkonsistenz der Sprechhaltung, der Fabel, der Personen und ihres Zusammenspiels sprechen kann, liegt nahe. Man muss schon bei der poetischen Weltrettung mitmachen wollen, mitschöpfend, sympathetisch. Auch die Idee, dass Literatur das Imaginäre dem Realen überordnet, muss man nicht für revolutionär halten. Und logisch schwierig ist ihre Begründung obendrein. Einen Hinweis darauf gibt Ali Smith, wenn sie im Folgeroman "Winter" rhetorisch fragt: "Where would we be without our ability to see beyond what it is we're supposed to be seeing."

Aber die Fragen an den Roman gehen nicht in Richtung Begründung, sie führen in einen offenen und verzweigten fiktionalen Raum der tausend Referenzen. Ali Smith' Erzählungen sind extrem verdichtete Metaliteratur. Genannt werden müssen noch die innigen Verbindungen zu John Keats und, notorisch bei Ali Smith, zu Virginia Woolf. Aber auch zu Charles Dickens: Mit einer Verballhornung eines der bekannteste Literaturzitate im englischsprachigen Raum - aus Dickens' "Eine Geschichte aus zwei Städten" - beginnt "Herbst": "Es war die schlechteste, es war die schlechteste aller Zeiten."

Auch bleibt noch Ali Smith' um- und überschreibende Arbeit mit Werken der bildenden Kunst zu erwähnen, ihre Idee und Praxis der Ekphrasis. Im Mittelpunkt jedes ihrer Jahreszeitenromane steht eine Künstlerin. In "Herbst" ist es Pauline Boty, eine weitgehend vergessene Pop-Artistin, deren Weg auch zu Christine Keeler führt, der legendären Society-Prostituierten aus den wilden Sechzigerjahren in London. In "Winter" ist es die Bildhauerin Barbara Hepworth, in "Spring" Tacita Dean.

Hier kommt, einen jahrhundertealten Wettstreit der Künste beerbend, die schöne Literatur an eine Grenze. Oder besser, Ali Smith versucht vergeblich, diese Grenze einzureißen. Sie unternimmt einige Anstrengungen, Pauline Botys Bildcollagen so zu beschreiben, dass wir sie klar vor dem inneren Auge stehen haben. Das funktioniert aber nicht. Die Simultaneität der Erfassung des Gegenstandes durch den Blick ist etwas anderes als die Verzeitlichung des Gegenstandes in der Linearität des Erzählens. Gerne wäre Ali Smith' Erzählung bildende Kunst. Aber sie kann diese nur hineinverwandeln in ihr Medium der Nachträglichkeit. Daran arbeitet sie sich auf vielen Wegen ab. Manche sind vergeblich, viele davon großartige Spaziergänge ins Offene und Überraschende.

Smith' Ab- und Umweg im sprachlichen Gelände mit derselben innigen Mischung aus Lässigkeit und Genauigkeit zu zeichnen wie die Autorin selbst, bis tief hinein in Kalauer und Lautpoesie, ist der Übersetzerin Silvia Morawetz hervorragend gelungen. Wäre der Roman Natur, dann wäre er ein altes raues verknotetes Holzgewächs, aus dem hier und da kleine Knospen sprießen.

© SZ vom 07.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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