Schauspiel Frankfurt:Theater besiegt Internet

Lesezeit: 3 min

Jennifer Haley führt in ihrem Stück "Die Netzwelt" in die Welt virtueller Lust- und Tötungsmöglichkeiten. Bernhard Mikeska hat es sehr klug und analog inszeniert.

Von Egbert Tholl

Das Internet offenbart für das Theater ein Dilemma. Einerseits wollen und müssen sich Theaterschaffende damit beschäftigen, und zwar auf der Bühne und nicht allein in Streamingangeboten, andererseits ist bei allem technischen Aufwand die Bühnenkunst eine analoge. Die Faszination einer Aufführung besteht fast immer in der Präsenz der Akteure, der reinen, unmittelbaren, physischen Präsenz. Das kann man dann deutlich spüren, wenn ein Regisseur mit viel Technik hantiert wie etwa der videofreudige Frank Castorf: Das wirkt dann so, als habe die Theatertruppe einen Elektrobaumarkt geplündert; das projizierte Bild erhält seine Wirkung durch seine handwerkliche Herstellung.

Entsprechend groß ist die Freude, wenn ein Stück auftaucht, das das Internet zum Thema hat und auch noch im Stil eines - wenn auch leicht verschrobenen - Well-Made-Plays geschrieben ist. "Die Netzwelt" von der in Texas aufgewachsenen Autorin Jennifer Haley erinnert tatsächlich über weite Strecken an ein Filmdrehbuch, ist Märchen, Krimi und ein bisschen (plumper) Diskurs gleichermaßen, erhielt 2012 den Susan-Blackburn-Preis, eine renommierte Auszeichnung für weibliche Dramatik, und erlebte seine deutsche Erstaufführung im September vergangenen Jahre am Münchner Residenztheater.

Zur Jahrtausendwende schenkte Patrick Marber dem Theater das Stück "Hautnah", das die Anbahnung geschlechtlicher Aktivitäten mittels Internet-Chat auf die Bühne brachte. Vielleicht gelingt Haley mit "Netzwelt" eine ähnliche Erfolgsgeschichte wie damals Marber, und zwar ausgerechnet mit dem völlig hybrid anmutenden Versuch, eine Internet-Parallelwelt für die Bühne zu formulieren. Denn: Man braucht die gar nicht. Das bewies jetzt der Regisseur Bernhard Mikeska am Schauspiel Frankfurt. Seine Inszenierung kommt ohne Video und ohne einen Bildschirm aus. Alles ist analog. Und ziemlich großartig.

Im Kern ist bei Haley die Netzwelt ein "Refugium", das der Internetunternehmer Sims erschaffen hat. Darin kann man in einer Art Avatar-Existenz junge Mädchen treffen, flirten, sich anhimmeln lassen - und sie töten. Immer wieder, mit einer Axt, das Mädchen stirbt und erwacht gleich darauf wieder zum virtuellen Leben. Sims, das erfährt man sozusagen in der Krimihandlung des Stücks, erschuf diese Welt, um sich selbst zu retten - und seine Kinder sowie die seiner Nachbarn, seiner Geschwister. Sims weiß um seine dunklen Gelüste und schuf sich einen Ort, wo er diese ohne Gefahr für andere ausleben - und nebenbei viel Geld verdienen - kann.

Nun ist ihm die Ermittlerin Morris auf der Spur, die Sims vorwirft, mit seiner Kreation erst zum Kindesmissbrauch zu animieren. Immer wieder kehrt das Stück zu kargen Verhörsituationen zurück, Morris gegen Sims, Morris gegen den alten Doyle, einen Besucher des Refugiums. Die Quelle ihrer Informationen heißt Woodnut, auch ein Gast im Refugium. Im Laufe der Stücks erfährt man: Morris selbst ist dieser Woodnut, er ist ihr Avatar, in dessen Gestalt sie sich in die Nebenwelt begibt und bald fasziniert ist von deren Möglichkeiten und den strengen Regeln der Anonymität. Als Woodnut wird Morris selbst zum Täter.

Im virtuellen Idyll hüpft und lockt das Mädchen Iris. Aber sie ist nur ein Avatar

Bei Mikeska, einem Virtuosen im Erfinden unmittelbarer Bühnensituationen, starrt man zunächst auf die leere Vorderbühne, Ort der harten Verhöre zwischen der ostentativ selbstsicheren Morris (Paula Hans), dem nervösen und doch stolzen Sims (Thomas Huber) und dem bemitleidenswerten alten Doyle (Peter Schröder). Dann wechselt das Licht, der Raum dahinter wird sichtbar, ein Waldidyll - das Stück spielt in einer vagen Zukunft, in der von der Natur nicht mehr viel übrig ist. Hier, in diesem superrealistischen Idyll, hüpft das Mädchen Iris (Alexandra Lukas) im weißen Kleidchen herum, ganz Unschuld und doch Verführung, Lustobjekt der anderen Besucher. Morris, Sims, Woodnut besuchen das Mädchen - und die virtuelle Welt wirkt dabei wirklicher als die reale.

Ähnlich wie Ferdinand von Schirachs "Terror" enthält das Stück kein moralisches Dogma, die Antwort darauf, ob Sims' Welt Fluch oder doch Segen ist, muss jeder für sich beantworten. Am Ende überwindet dann das Theater das Internet völlig: Sims und der alte, zauselige Doyle gestehen einander ihre Liebe. Doyle war das Mädchen Iris, sie war sein Internet-Avatar. Nun hocken sie real beieinander, die beiden in diesem Moment rührenden Trottel, und sind auf groteske Art zärtlich. In diesem Moment hat Sims seinen dunklen Drang überwunden. Vielleicht.

© SZ vom 16.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: