Schauplatz Venedig:Heldenmythos, Stimmenzauber

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Hanns-Josef Ortheil errichtet in "Der von den Löwen träumte" ein Roman-Denkmal für Ernest Hemingway in Venedig und Peter Schneider porträtiert Antonio Vivaldi.

Von Kristina Maidt-Zinke

Bis zu dem Tag, an dem bei Hochwasser nur noch die Spitze des Campanile von San Marco aus der Lagune ragt, wird Venedig als literarischer Schauplatz taugen. Romantiker mögen das der Einzigartigkeit dieses Stadtgebildes zuschreiben, Zyniker sprechen inzwischen von einer erfolgreich etablierten Marke. Venedig-Fiktionen, die in der Gegenwart spielen (zur Zeit ohnehin nur Kriminalromane) kommen allerdings an den prekären Seiten der globalisierten Serenissima nicht mehr vorbei. Entspannter stellt sich die Lage für Schriftsteller dar, die eine vergangene Version der Stadt auferstehen lassen und sie um historische Figuren herumbauen. Sie können den Topos "Venedig" benutzen wie eine Theaterbühne, die nicht einmal aufwendig rekonstruiert werden muss, da das Zielpublikum die entsprechenden Bilder aus einem längst abgespeicherten Vorrat selbst erzeugt. Kurz vor der jüngsten Beinahe-Sintflut sind zwei deutsche Autoren der älteren Generation mit Büchern hervorgetreten, die diesem Prinzip folgen - unter ganz verschiedenen Voraussetzungen, doch nicht ohne Parallelen. Hanns-Josef Ortheil, unermüdlich produktiv, Italienkenner und Venedigliebhaber, ließ schon vor zwanzig Jahren einen fiktiven venezianischen Künstler des 18. Jahrhunderts "Im Licht der Lagune" malen, lieben und leiden. Diesmal versetzt er sich nur um ein paar Jahrzehnte zurück, sein Held, "Der von den Löwen träumte", ist der berühmte Kollege Ernest Hemingway. Er kam im September 1948 mit seiner vierten Frau Mary aus Kuba nach Europa und hielt sich, nachdem aus der geplanten Südfrankreichtour wegen eines Schiffsdefekts eine Italienreise geworden war, unter anderem in Venedig auf, wo er an einer Schreib- und Lebenskrise laborierte und seiner letzten Muse begegnete - oder, wie es der alternde Womanizer selbst sah, seiner "letzten und wahren Liebe".

Ortheils Hemingway ist ein Altmeister, der über den Tod grübelt und sich nach Stille sehnt

Interessanterweise folgt Ortheils Roman dicht auf ein italienisches Buch, das sich dieser Episode widmet. Der Journalist Andrea di Robilant veröffentlichte 2018 unter dem Titel "Autunno a Venezia" (Herbst in Venedig) das Resultat seiner Recherchen zur Romanze zwischen dem damals fünfzigjährigen, von diversen Ausschweifungen schon gezeichneten "Papa" und der 32 Jahre jüngeren, bildschönen, etwas naiven Venezianerin Adriana Ivancich, die er gern "Tochter" nannte. Die Beziehung dauerte insgesamt zwölf Jahre und fand ihren direkten Niederschlag in einem der schwächsten Romane Hemingways, "Über den Fluss und in die Wälder".

Sie erzeugte jedoch auch den kreativen Schub, den er benötigte, um nach zehnjähriger Publikationspause seinen abgewirtschafteten Ruf zu restaurieren: Bei der Arbeit am Weltbestseller "Der alte Mann und das Meer" war seine obsessive Zuneigung zu Adriana, die er inzwischen nach Kuba eingeladen hatte, die treibende Kraft. Di Robilant, Großneffe eines Trinkkumpans von Hemingway, verdankt dieser familiären Quelle sowie dem Zugriff auf Mary Hemingways Notizen eine Fülle verbürgter Details, die er zu einem erzählenden Sachbuch verarbeitet hat.

Der Romancier Hanns-Josef Ortheil hingegen wollte zugleich weniger und mehr. Weniger, was Fakten und Hintergründe betrifft, und mehr, was Hemingways gemutmaßtes Innenleben und seine Venedig-Erfahrung angeht. Denn die Wege des späteren Nobelpreisträgers zwischen dem Grandhotel Gritti, Harry's Bar und der Locanda Cipriani auf Torcello, wo er sich ein Schreib-Idyll einrichtete, die Jagdausflüge, Trink- und Essgelage mit seiner feiersüchtigen Entourage geben für einen Romanplot wenig her. Bei Ortheil gerät allerdings auch das Liebes- und Eifersuchtsdrama viel blasser, als es in Wirklichkeit war, angefangen bei den Umständen der ersten Begegnung. Dafür taucht er tief und spekulativ in die Midlife-Crisis des Helden ein und macht aus dem notorisch zwischen Größenwahn und Depression schwankenden, unheilbar egomanischen und stets zu Eskapaden aufgelegten Ernest einen ernsthaften, nach Stille und Rückzug sich sehnenden, über Liebe und Tod grübelnden Altmeister Hemingway.

Ihn lässt Ortheil - so kühn wie kurios ausgedacht - Anschluss bei der Familie eines Lokalreporters aus Burano finden, dessen Sohn das Fischerhandwerk betreibt. Dieser sechzehnjährige Paolo wird Hemingways Bootschauffeur und Cicerone in Venedig und in der Lagune, mit ihm redet er über Gott und die Welt, und ihm verdankt er, so wird suggeriert, die Inspiration zur Geschichte vom alten Mann und dem Meer. Das liest sich zwar rührend, wird aber hoffentlich von den Lesern nicht für bare Münze genommen, Roman ist eben Roman. Oder auch nicht, denn Peter Schneiders Buch über "Vivaldi und seine Töchter", laut Untertitel der "Roman eines Lebens", verfährt ganz anders. Dass der Autor, der in den letzten Jahren Schritt für Schritt aus der Rolle des politischen Schriftstellers und Achtundsechziger-Chronisten herausgetreten ist und sein Themenspektrum erweitert hat, nun einen venezianischen Barockkomponisten in den Blick nimmt, mag viele überraschen, ebenso wie seine intensive musikalische Sozialisation, von der hier auch berichtet wird.

Vivaldis "Töchter" singen im Chor des Mädchenwaisenhauses Ospedale della Pietà

Die Anregung, sich mit Antonio Vivaldis Vita schreibend zu befassen, verdankt Schneider dem 2017 verstorbenen Kameramann Michael Ballhaus, der darüber, wie wir erfahren, gern noch einen Film in Venedig gedreht hätte, nach einem Skript von Schneider. Diese Konstellation ergab ein Buch, das zugleich Forschungsbericht, Essay und szenische Erzählung ist, für ein Laienpublikum leicht und anschaulich geschrieben und doch von bemerkenswertem Gehalt.

Der Titel bezieht sich auf die Zeit, in der Vivaldi, zum Priester geweiht, aber das Amt nicht mehr ausübend, Chor und Orchester des Mädchenwaisenhauses Ospedale della Pietà betreute, erst als Violinlehrer, dann als Konzertmeister, und dem Ensemble, das er aus den begabtesten seiner Schülerinnen formte, zu legendärem Ruf verhalf. Gleichzeitig arbeitete er an seinem eigenen Ruhm, indem er nicht nur Concerti in enormer Anzahl und Vielfalt für das Orchester komponierte, sondern auch sein kaum minder reiches Opernschaffen einleitete und als Impresario wirkte.

Peter Schneider folgt Vivaldi auf seinen Karrierewegen innerhalb Venedigs, nach Mantua, Rom und Triest, bei seiner musikalische Arbeit mit den "figlie", seinen Begegnungen mit adligen Auftraggebern und Librettisten, seinen Verstrickungen in Rivalitäten und Intrigen, bis zur Flucht nach Wien. Er rekonstruiert Fragmente einer Musiker-Biografie. Die verwendeten Quellen hat er genau dokumentiert, eigene Erfindungen (wie ein Treffen mit Rousseau) als solche enthüllt, Seelen-Gründeleien vermieden und auch sonst seine Imagination weitgehend gezügelt. So entsteht ein lebendiges, doch immer wieder reflektierend zurückgenommenes Bild vom venezianischen Musikleben des 18. Jahrhunderts und seinem populärsten Protagonisten, ergänzt um erhellende Auskünfte zu den "Vier Jahreszeiten", zum lombardischen Rhythmus oder zur Wiederentdeckung der lange verschollenen Vivaldi-Partituren im zwanzigsten Jahrhundert.

Angenehm ist Schneiders Zurückhaltung im Hinblick auf Vivaldis privates Verhältnis zu seinen "Töchtern", insbesondere zu der Sängerin Anna Girò, mit der ihn - vielleicht, vielleicht auch nicht- mehr als eine enge künstlerische und geschäftliche Beziehung verband. In einem Regiekapitel werden, sehr kurzweilig, entsprechende Erotik-Erwartungen von Filmproduktionsfirmen diskutiert. Und damit wieder zu Hemingway: Auch bei ihm rätselt man bis heute, wie platonisch seine venezianische Affäre war. Sogar der Altersunterschied stimmt exakt überein, nur hatte "Papa", anders als der "rote Priester", wie man Vivaldi wegen seiner Haarfarbe nannte, kein Keuschheitsgelübde abgelegt. Anna, Adriana und ihre Pseudo-Väter, dazu die Kulisse Venedigs: Hollywood sollte auf beide Geschichten zugreifen, solange der Schauplatz noch über dem Meeresspiegel liegt.

Hanns Josef Ortheil: Der von den Löwen träumte. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2019. 350 Seiten, 22 Euro. Peter Schneider: Vivaldi und seine Töchter. Roman eines Lebens. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 288 Seiten, 20 Euro.

© SZ vom 28.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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