Schauplatz Moskau:Anstehen zum Gedenken

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Ein Stein im kleinen Park am Moskauer Lubjanka-Platz erinnert an die Opfer der sowjetischen Straflager. Jedes Jahr am 29. Oktober stehen die Moskauer hier Schlange und lesen die Namen und kurze Biografien der Opfer des Großen Terrors.

Von Julian Hans

Zwei Schlangen am letzten Samstag in Moskau: eine zu den Tätern, eine zu den Opfern. Seit die kommunistische Ideologie begraben wurde, stehen die Besucher nicht mehr bis über den halben Roten Platz, um einen Blick auf den toten Lenin werfen zu können. Das Mausoleum hat nur noch drei Stunden am Tag geöffnet, von zehn bis 13 Uhr. Es warten Touristen aus China und aus der russischen Provinz.

Auf den Gräbern an der Kreml-Mauer liegen Plastiknelken. Aber auf zweien hat jemand frische Blumen abgelegt: bei Stalin und bei Felix Dserschinski, dem Gründer der sowjetischen Geheimpolizei Tscheka, aus der später der KGB hervorging. Eine Mutter fotografiert ihren Sohn vor der Stalin-Büste. Das Kind trägt einen Anorak in den Farben der russischen Trikolore. Den hätte er unter Stalin besser nicht getragen.

Ein Spaziergang die Nikolskaja-Straße hinauf führt zur zweiten Schlange. Sie windet sich durch einen kleinen Park am Lubjanka-Platz zu einem großen Findling. Der Stein wurde 1990 von den Solowki-Inseln hergebracht, wo in den Zwanzigerjahren die ersten sowjetischen Straflager entstanden. An jedem 29. Oktober lesen die Moskauer hier Namen und kurze Biografien der Opfer des Großen Terrors. Allein in der Hauptstadt wurden unter Stalin mehr als 40 000 Männer und Frauen abgeholt und erschossen oder kamen in Lagern um.

Seit zehn Uhr früh stehen die Menschen hier, bis zehn Uhr nachts reißt die Schlange nicht ab. Jeder ließt zwei oder drei Namen:

"Nowitschkowa, Elisawjeta Wasiljewna, 40 Jahre, Arbeiterin in einer Fabrik, erschossen am 17. September 1937." "Lowizkij, Mefodij Jewtichijewitsch, 41 Jahre, Koch, erschossen am 31. Januar 1938." Viele haben eine persönliche Verbindung: "Mein Großvater, Grigorij Isamilowitsch Friedland, 42 Jahre, erschossen am 8. März 1938." Manche fügen eine Mahnung an: "Der Terror der Tschekisten darf sich nie wiederholen", sagt ein weißhaariger Mann. Er dreht sich zu dem Gebäude hinter ihm um; in der einstigen KGB-Zentrale residiert heute der Nachfolger FSB.

Die Organisation Memorial veranstaltet die "Rückgabe der Namen" im zehnten Jahr. Kürzlich hat das Justizministerium Memorial International auf die Liste der "ausländischen Agenten" gesetzt - auch ein Begriff aus der Stalin-Zeit, der zurückgekehrt ist.

© SZ vom 02.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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