Schauplatz London:Woyzeck im Ausnahmezustand

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Ein Reggae-Lied, das großteils aus Zitaten von Theresa May besteht, ist gerade sehr angesagt in den Charts. Der Refrain lautet: "Sie ist eine Lügnerin." Und auch sonst ist zurzeit alles recht seltsam in Großbritannien.

Von Alexander Menden

An diesem Dienstag lag ein Reggae-Song auf Platz drei der britischen iTunes-Charts, vor Liam Payne und Rita Ora. Er heißt "Liar", stammt von der Londoner Band Captain Ska und hat nur ein Thema: Man kann Theresa May nicht trauen. Er besteht zum Großteil aus O-Tönen der britischen Premierministerin. Unter anderem versichert sie, auf keinen Fall eine vorgezogene Unterhauswahl ansetzen zu wollen. Der Refrain lautet: "Sie ist eine Lügnerin - ihr könnt ihr nicht trauen!"

Normalerweise wäre ein Lied über das zusammenbrechende Gesundheitssystem, unterfinanzierte Polizeitruppen und gebrochene Wahlversprechen nicht mal ein Kandidat für die Top 100. Aber Theresa May hat, seit sie im April trotz aller gegenteiligen Beteuerungen eine vorgezogene Unterhauswahl ankündigte, so ziemlich alles falsch gemacht, was sie im Wahlkampf falsch machen konnte. Sie hat Teile ihres Wahlprogramms, die bei Stammwählern nicht gut anzukommen schienen, hektisch wieder zurückgenommen. Sie wirkte menschenfern und unsouverän, weil sie Interviewfragen mit den immer gleichen Slogans beantwortete. Und sie führt einen schmutzigen Wahlkampf, bei dem jedes Mittel erlaubt zu sein scheint.

Das machten besonders die Tage nach dem Selbstmordanschlag in Manchester deutlich. Alle Parteien hatten gelobt, den Terror nicht wahlkampftaktisch auszunutzen. Aber Labour unter Jeremy Corbyn hat mit einem "Sozialismus Classic"-Programm unerwartet in den Umfragen aufgeholt. Und so sah man es mit sehr gemischten Gefühlen, als vergangene Woche Polizisten Seite an Seite mit Soldaten patrouillierten, die in Friedenszeiten in die britischen Innenstädte zu entsenden May für opportun hielt. Seht her, hieß das: Strong and stable - stark und stabil, wie ich es immer wieder versprochen habe. Sicherer fühlte man sich dadurch nicht, der Ausnahmezustand wurde einem nur deutlicher vor Augen geführt.

Die allgemeine Nervosität ist hoch, und sie dringt auch in Bereiche vor, in denen man sich bisher weitgehend sicher fühlte. Am vergangenen Samstag etwa hatte man glücklich noch eine Karte für eine Matinee der "Woyzeck"-Inszenierung mit John Boyega (Finn aus "Star Wars") am Old Vic Theatre ergattert. Aber mitten in der Vorstellung wurden die Darsteller von der Bühne geholt, und freundliche Platzanweiserinnen mit Taschenlampe baten die Zuschauer, ruhig aber rasch das Gebäude zu verlassen. Draußen tippten alle wie wild auf ihren Smartphones herum, die Polizei sperrte die Straße ab. Und obwohl letztlich nichts Verdächtiges gefunden wurde, fiel der Rest von "Woyzeck" aus.

Die Sicherheitsstufe ist nun wieder gesenkt, die Soldaten sind in ihre Kasernen zurückgeschickt worden. Das Gefühl, in einem verunsicherten, gespaltenen Land zu leben, besteht fort.

© SZ vom 31.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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