Schauplatz Berlin:Osteuropakonferenz mit Käsebrötchen

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Was ist nur los mit den Polen? Und mit den Österreichern? Ein paar Beobachtungen im Restaurant Borchardt, wo der Lyriker Adam Zagajewski den Jean- Améry-Preis für Europäische Essayistik entgegennahm.

Von LOTHAR MÜLLER

Der Billardtisch im ersten Obergeschoss des Restaurants Borchardt leuchtet grün. Jemand raucht an der Bar. Zwei lange Tischreihen im großen Salon sind festlich gedeckt. Den Gästen wird die Vorspeise serviert. Mit dem Rücken zur weinroten Wand des Etablissements - das Wort passt hier besser als "Location" - sitzt der polnische Lyriker und Essayist Adam Zagajewski und lächelt milde. Er wird gleich den Jean- Améry-Preis für Europäische Essayistik 2016 entgegennehmen. Grimmig lächelt der Vorsitzende der Jury, der österreichische Autor Robert Menasse. Er attackiert im Gespräch mit einem Journalisten scharf die Flüchtlingspolitik der Regierung seines Landes und gibt Kostproben der Hassmails zum Besten, die ihn erreichen. Dann hält der ungarische Autor László Földényi die Laudatio. Er spricht über die Herkunft Zagajewskis, der 1945 in Lemberg, dem heutigen Lwiw, geboren wurde, aber in Gliwice (Gleiwitz) aufwuchs. Wären unsere Familien, sagt Földényi, dort geblieben, wo sie ursprünglich herkamen, dann wären wir beide jetzt Bürger der Ukraine.

Dann zitiert er das Gedicht "Endstation",, in dem Zagajewski auf den Fünfzehnjährigen zurückblickt, der er 1960 war. Es handelt von einer Straßenbahnfahrt, vorbei an den Fördertürmen des Bergwerks und Gärten mit rußbedeckten Rosen, und endet so: "Ich dachte, an der Endstation / werde sich der Sinn all dessen enthüllen, / aber nichts geschah, nichts, / der Fahrer aß ein Käsebrötchen, / zwei alte Frauen redeten leise /über Preise, über Krankheiten."

Von der Enttäuschung, die das Gedicht festhält, ist es nicht weit zum Hauptmotiv der Laudatio: Sie würdigt Zagajewski als Essayisten, als Anwalt der "metaphysischen Unruhe", und diese Unruhe hat zwei Quellen: die Erfahrung des in die Jahre gekommenen, kurz vor dem Kollaps stehenden Sozialismus; und das Unbehagen über die Dominanz von Ökonomie, Politik und Verwaltung im Westen.

Adam Zagajewski lächelt immer noch milde. Wenn er über die engen Köpfe in der aktuellen polnischen Regierung spottet, klingt es fast so, als sei sie durch die irregeleitete metaphysische Unruhe des Ostens an die Macht gekommen. Vielleicht, flüstert leise ein Gast seinem Nachbarn ins Ohr, helfen Käsebrötchen, zivile Preise und das Kurieren von Krankheiten. Europa ist eine Krisenregion. Nicht nur eine Sinnkrisenregion.

© SZ vom 04.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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