Schauplatz Berlin:Menschen in der Elektrischen

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In Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" fuhr Franz Biberkopf noch mit der Straßenbahn vom Gefängnis Richtung Scheunenviertel. Im West-Berlin der Nachkriegszeit wurden die Bahnen dann sehr schnell abgeschafft.

Von Lothar Müller

Neulich wurde im Literarischen Colloquium am Wannsee der Stummfilm "Menschen am Sonntag" gezeigt, eine Gemeinschaftsproduktion von Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer und Billy Wilder, uraufgeführt im Februar 1930. Wie die von Laienschauspielern dargestellten Menschen, die zum Wannsee hinausfahren, gehören darin die privaten und öffentlichen Verkehrsmittel zu den Hauptdarstellern. Zu Beginn findet sich ein Paar am Bahnhof Zoo, während die Kamera die S-Bahn erfasst, die auf der Trasse oben den Bahnhof verlässt, den Eingang zur U-Bahn-Station, die Busse, Taxen und Motorräder, die um die Straße rivalisieren, die Straßenbahnlinien, die einander kreuzen.

Ein Remake des Films mit heutigen Berlinern müsste auf eine Hauptdarstellerin unter den Verkehrsmitteln verzichten. Im West-Berlin der Nachkriegszeit wurden die Straßenbahnen in kaum mehr als einem Jahrzehnt abgeschafft. Anfang Juni 1958 wurde die Linie 41 eingestellt, mit der zu Beginn von Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" Franz Biberkopf vom Tegeler Gefängnis Richtung Scheunenviertel fährt: "Er drehte den Kopf zurück nach der roten Mauer, aber die Elektrische sauste mit ihm auf den Schienen weg, dann stand nur noch sein Kopf in der Richtung des Gefängnisses. (...) Lebhafte Straßen tauchten auf, die Seestraße, Leute stiegen ein und aus. In ihm schrie es entsetzt: Achtung, Achtung, es geht los."

Auch in Ostberlin gab es Stilllegungen, aber als die Mauer fiel, verkehrten in Mitte noch zwölf Straßenbahnlinien. Jetzt steht, unmittelbar vor dem Tag der Einheit, der fünfzigste Jahrestag des 2. Oktober 1967 bevor, an dem die letzte Straßenbahnlinie in West-Berlin geschlossen wurde, die Linie 55, die vom Bahnhof Zoologischer Garten über die Siemensstadt nach Spandau fuhr. Noch einmal führte die letzte Fahrt am industriellen Berlin vorbei und rief in Erinnerung, dass die Straßenbahn für die Menschen am Sonntag und Franz Biberkopf noch "die Elektrische" war.

Fünfzig Jahre später ist die verkehrstechnische Teilung der Stadt noch sichtbar. Einige vorsichtige Fühler hat die Neuentdeckung der Straßenbahn nach der Wende ins ehemalige West-Berlin ausgestreckt. Aber der Großteil der Straßenbahnen verkehrt im Osten der Stadt. Wenn Chris Dercon, weil es ihm an der Volksbühne zu bunt wird, zum Hauptbahnhof will, kann er mit der Straßenbahn fahren. Zu den wichtigsten Vorhaben der Erweiterung des Straßenbahnnetzes gehört die Anbindung des Verkehrsknotenpunktes Ostkreuz. Der wird derzeit aufwendig modernisiert. Mit der Fertigstellung wird 2018 gerechnet. Ein Jahr später sollen dort die ersten Straßenbahnen zu rollen beginnen. Das Ostkreuz ist derzeit bei Touristen sehr beliebt. Man hört dort viel Englisch. Die Straßenbahn wird sich verspäten. Einen Spitznamen hat sie schon: "a Streetcar named Desire".

© SZ vom 29.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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