Schauplatz Berlin:Heilige Abende in Stereo

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1983 wurde in Schöneberg ein Laden aufgemacht, in dem man heute vieles aus der Raritäten-Kiste fischen kann: "Mr. Dead & Mrs. Free". Nun schließen sie. Warum?

Von Peter Richter

"Lasst uns froh und nicht mehr nüchtern sein ..." Es ist sicher die albernste, aber gleichzeitig auch euphorischste Einspielung eines Weihnachtsliedes ever. "Lustig, lustig, trallalala": die Deutsche Trinkerjugend, "Knecht Ruprecht", 1.06 Minuten Spätpubertät. Es ist das erste Lied auf Seite zwo von "Stimmung! Ein Vollrausch in Stereo" und musikgeschichtlich insofern von Bedeutung, als das die erste Sammel-LP zum deutschen Fun Punk war. Die Ärzte waren mit drauf, die "Die Ärzte"-Vorgänger Frau Suurbier, auch die Tangobrüder, ein Seitenprojekt der Toten Hosen. Manche füllen heute Stadien, andere haben nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag. Gewidmet ist das Album einem "Stimmungsbomber der ersten Stunde", Harald Juhnke. Aufgenommen wurde es bei Schnick-Schnack-Tonträger in 1000 Berlin 21, und in dem Jahr, in dem es herauskam, 1983, wurde auch der Laden aufgemacht, in dem man es jetzt aus der Raritätenkiste fischt, "Mr. Dead & Mrs. Free" in Berlin-Schöneberg. Für 16 Euro könnte man damit vielleicht jemandem zu Weihnachten eine Freude machen, der sich auch noch erinnern kann, dass dieser Teil der Stadt damals 1000 Berlin 30 hieß.

Haben nicht Schallplatten auch damals immer 16 gekostet?

These: Die alten Postleitzahlen verhalten sich zu den neuen wie Vinyl-Schallplatten zu CDs. Runtergeladene Musik entspräche der E-Mail-Adresse. Man braucht den alten Kram nicht wirklich, um klarzukommen, aber man fühlt sich kulturell reicher, wenn man über ihn verfügen kann: Wenn man zum Beispiel parat hat, warum der wilde Teil von Kreuzberg bei manchen im Altberliner Sprachgebrauch heute noch SO 36 heißt und "das bürgerliche" Kreuzberg 61, und dass es im Osten mal eine Band gab, die NO 55 hieß, weil das die Postleitzahl von Prenzlauer Berg war. (Vielleicht sind die ganz alten Postleitzahlen gewissermaßen auch die Schellack-Platten unter den Anschriften.) Damals war jeder sofort im Bilde darüber, wo eine Adresse lag; heute sagen die fünfstelligen Codes den meisten so viel wie eine URL, die nur in Ziffern geschrieben ist.

Damals ... heute. Händler von Vinylplatten werden so was sehr häufig hören müssen. 16 Euro für die "Knülle im Politbüro" von Der KFC? (aus 4000 Düsseldorf 1). Haben nicht Schallplatten auch damals immer 16 gekostet? Nur halt in Mark?

Mr. Dead und Mrs. Free, die eigentlich Volker Quante und Katharina Winkels heißen, haben das jetzt 35 Jahre lang gemacht, und ihnen setzt, eigenen Aussagen zufolge, nicht der Niedergang des Vinyls zu, sondern die nostalgischen Begleiterscheinungen seines neuerlichen Erfolgs: dieser dauernde Blick zurück, junge Menschen, die nun auch wieder vor allem nach "Animals" von Pink Floyd fragen. Dazu kann man diese jungen Menschen nur beglückwünschen, einen Plattenladeninhaber, der sich nicht langweilen will, allerdings nicht. Deshalb geben sie Anfang des Jahres ihren sehr legendären Laden auf und suchen neue, wie man so sagt, Herausforderungen, unter welcher Postleitzahl auch immer.

© SZ vom 22.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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