Schauplatz Berlin:Ernst und Krakeel an den Wänden

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Manches Wandbild in der Stadt ist verschwunden, weil Lücken geschlossen wurden. Aber noch gibt es viele Wandbilder. Es wird vergleichsweise hoch gebaut. Vier Stockwerke sind die Norm, das schafft Platz für die Kunst.

Von Stephan Speicher

Bis vor etwa drei Jahren hatte die U-Bahn-Fahrt in Richtung Pankow eine spezielle Attraktion. Hinter der Station Eberswalder Straße prangte auf einer Brandmauer ein fußballspielender Berliner Bär, mit kurzen Armen und Beinen etwas kindlich wirkend, dafür mit Mauerkrone. Er war der vermutlich bestgelaunte aller Berliner Bären - sieht man von dem tanzenden Artgenossen mit Holzbein ab im Waldkrankenhaus Spandau. (Die Orthopädie dort hat einen guten Ruf.) Der kickende Bär wurde 1988 gemalt, später wurde das Bild durch die aufgesprühte Inschrift "Aufstand der Würde!!!" ergänzt. Dass gleich drei Ausrufezeichen die Forderung unterstreichen, schadete der Würde etwas. Jedenfalls hatte man auf dem Bild zwei wesentliche Momente des Berliner Wandbildes beisammen, Ernst und Krakeel. Leider ist das Bild mittlerweile verschwunden, die Brache vor der Brandmauer wurde bebaut. Berlin hat viele solcher Wandbilder. In der Stadt wird für deutsche Verhältnisse hoch gebaut, vier Obergeschosse sind die Norm, das schafft Platz für Kunst. Und weil es immer noch eine ganze Reihe von enttrümmerten und noch nicht wieder bebauten Grundstücken gibt, gibt es auch freie Brandmauern. Natürlich lassen sich auch Fassaden bemalen, aber die künstlerischen Ergebnisse sind weniger attraktiv, die Verführung zum bloßen "Schmücke dein Heim!" scheint zu stark. Auf Brandmauern kann dagegen etwas geschehen. Der Berliner Fotograf Norbert Martins geht der Sache seit rund 30 Jahren nach. Gerade stellt er in der Neuköllner Helene-Nathan-Bibliothek Fotografien aus, sein Buch "Hauswände statt Leinwände" dokumentiert, was so gemalt und gesprüht wird. Natürlich gibt es genügend banale Dinge: Sonnenblumen auf Hochhäusern etwa. Aber manches geht einem auch nach. In der Oranienstraße gleich am Görlitzer Bahnhof etwa ein modernes Jagdstillleben: Vom Giebel hängen ein Hase, ein Reiher und ein Rehbock über viele Meter herab darunter liegt ein totes Mufflon. Die Tiere sind in Grisaille gemalt, mager, mit merkwürdig schütterem Fell, fast ein wenig räudig-rattenhaft; aus der Fülle des Lebens wurden sie nicht herausgerissen. Ein Teil dieser Bilder ist aus der Hausbesetzer-Szene entstanden, aber vieles ist auch Auftragskunst. In den Siebzigerjahren legte der Senat im Westen der Stadt Programme auf ("Farbe im Stadtbild"), die als ABM-Maßnahmen für Künstler wirken sollten - und verblüffenderweise häufig mehr als Senatskunst hervorbrachten. Auch die Wohnungsbau-Gesellschaften versuchen ihre Immobilien auf diese Weise aufzuwerten. Ein besonders eindrucksvolles Bild war das von Blu in der Schlesischen Straße. Zwei Gestalten versuchen sich gegenseitig die ganz gleichartigen Masken vom Gesicht zu ziehen, eine Aufklärung, von der nicht viel zu erwarten ist. Dass die Struktur des Mauerwerks noch durchschien, gab dem Bild eine körnige Präsenz, die zum Unwirklichen beitrug. Die Cuvry-Brache, die vor dem Mauerbild sich erstreckte, soll demnächst bebaut werden; aus Protest hatte Blu sein Werk im Dezember 2014 schwarz übermalen lassen. Es ist ein Verlust im Stadtbild, aber das gehört zu dieser Art von Kunst. Wer das nicht ertragen will, müsste jede Entwicklung der Stadt stoppen. Derzeit sieht man gegenüber an einer anderen Mauer nur noch das Bild "Neonchocolade" und den Sinnspruch "Fickt Eusch allee". Wir sind in Berlin.

© SZ vom 28.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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