Schaubühne Berlin:Elektroschocktheater zum Mitfühlen

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Der junge Regisseur David Stöhr bringt Heinar Kipphardts Psychiatrie-Roman "März" auf die Bühne. Das ist anrührend, weiß er doch mit dem Krankheitsbild Schizophrenie behutsam umzugehen.

Von Anna Fastabend

Der Horror bricht so plötzlich herein, dass man zusammenfährt. Ein scharfes Surren im Studio, und die Figur des März, ein paranoid Schizophrener, zuckt unkontrolliert herum, man kann es kaum ertragen. Er bekommt Elektroschocks verabreicht und wird durch die brachiale Behandlung vom begabten Künstler zum stammelnden Bündel Mensch. Mit "März" hat sich der Regisseur David Stöhr, Jahrgang 1987, Absolvent des Max Reinhardt Seminars und Zögling von Thomas Ostermeier, für seine erste eigenständige Inszenierung an der Berliner Schaubühne eine anspruchsvolle Vorlage gewählt. Der gleichnamige Roman von Heinar Kipphardt erzählt die Leidensgeschichte eines schizophrenen Dichters, der sich nach Jahrzehnten in der geschlossenen Anstalt in Flammen setzt. In den späten Sechzigern hatte Kipphardt sich Originalmaterial der Antipsychiatriebewegung vorgenommen, die sich bis heute für Patientenkollektive und mehr Mitbestimmung einsetzt, und daraus eine berührende Geschichte gemacht, die mit den Psychiatrien hart ins Gericht geht.

So ein Thema erfordert Einfühlungsvermögen, von dem Stöhr glücklicherweise jede Menge besitzt. Er ist ein Regisseur, der seine Figuren bedingungslos liebt, allen voran die ausgestoßenen, zu Versuchsobjekten degradierten Schizophreniekranken, die er in dieser Inszenierung mit großer Behutsamkeit in Szene setzt und so das schwierige, manchmal abschreckende Krankheitsbild erfahrbar macht - die Realitätsverschiebungen, die Verfolgungsängste, aber auch die blühende Fantasie, die sich in diesem Fall durch archaische Tänze, tiefsinnige Gedichte und allerhand Zeichnungen zeigt.

Konrad Singer, meistens nackt auf der Bühne, spielt März so, dass man viel Empathie für ihn empfindet. Seine emotionale Bandbreite ist groß, sekundenschnell wechselt er vom verschmitzten zum allwissenden Lächeln, vom schmerzverzerrten Gesicht zur totalen Apathie. Seine Händen sind ständig in Bewegung, reiben über die Hose, streichen fahrig durchs Haar, würden sich so gerne irgendwo festkrallen, rutschen aber immer wieder ab.

Womöglich ist nicht März, sondern seine Umgebung krank und behandlungsbedürftig

Dabei ist März ein Mensch, von dem die Gesellschaft widerständiges Handeln lernen könnte. Er lässt Tiere aus Pelztierfarmen frei, übt Kritik an entfremdeter Arbeit und an den Zuständen in der Psychiatrie. Seine hellsichtigen Analysen sind entlarvend. Womöglich ist nicht er, sondern seine Umgebung krank und behandlungsbedürftig. Genauer gesagt das Gesundheitssystem, das von einem Arzt namens Kofler repräsentiert wird, den David Ruland mit so professionellem Gleichmut verkörpert, dass er einen schier in Rage bringt. Seine bohrenden Fragen und stechenden Blicke sind erbarmungslos. Doch Kofler ändert sich im Verlauf des Stücks, lehnt die grausamen neurochirurgischen Eingriffen der Lobotomie ab, die Schizophrene gefügig machen sollen.

Düstere Klänge und hauchfeines Glockenspiel von Anton Berman machen den Abend auf der akustischen Ebene zugänglich, das Bühnenbild (Saskia Göldner und Holle Münster) ist so spartanisch wie ein Krankenhaus eingerichtet und so variabel wie die Fantasie seiner Bewohner: Martialische Fleischerhaken sind die Aufhänger für Fellkostüme, ein auseinanderziehbares Rechteck dient als Sprungbrett in ein imaginäres Wasserbecken und zugleich als Malgrund einer schizophrenen Frau namens Hanna, die Veronika Bachfischer mit großer Verletzlichkeit spielt. Zwischen ihr und März entwickelt sich eine zarte Liebesgeschichte, an deren Anfang sich beide ihre familiären Traumata erzählen.

Großartig die Szene, in der Veronika Bachfischer breitbeinig auf einer Bank sitzt und den französischen Psychoanalytiker Félix Guattari mimt. Er und Gilles Deleuze wollten die Therapiewelt mit ihrem "Anti-Ödipus" aus der Eltern-Kind-Fixierung befreien. Doch bevor es ums Gegenmodell zur Psychoanalyse geht, schwärmt Guattari von Steak Tatar. Nichts könnte den Realitätsunterschied von Ärzten und Patienten besser darstellen. Auf der einen Seite geht es um Leben und Tod, auf der anderen um ein intellektuelles Kräftemessen mit Sigmund Freud - neben dem das Savoir-vivre nicht fehlen darf.

März hält einer Zuschauerin vorgekauten Apfelbrei hin. Im realen Leben hätte sie sich vermutlich angewidert weggedreht, hier aber nimmt sie den Brei in die Hand. "März" ist ein bewegender Abend. Man verlässt ihn mit mehr Verständnis für die Krankheit.

© SZ vom 22.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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