Zu Beginn des Jahres schockte der Bürgermeister von São Paulo, Gilberto Kassab, die PR-Branche seiner Stadt, indem er jede Werbung im Stadtbild verbieten ließ. Seither ist São Paulo die weltweit erste Metropole ohne Banner, Poster und Plakate. Wie lebt es sich in solch einer Stadt? Fragen an den Architekten und Urbanisten Jorge Wilheim, der bis vor kurzem das Stadtplanungsbüro von São Paulo leitete.
SZ: Herr Wilheim, wissen Sie, warum Gilberto Kassab diesen drastischen Schritt unternommen hat?
Jorge Wilheim: Das weiß keiner so genau. Aber er wollte auf jeden Fall nach der Abwahl unseres alten Bürgermeisters deutlich machen, dass jemand Neues das Sagen hat. Das hat er geschafft.
SZ: War die Werbung so omnipräsent, dass die Paulistas sich darüber ärgerten?
Wilheim: Und wie! Es war einfach zu viel geworden, überall hingen Plakate und Banner, man konnte das nicht mehr verkraften. Die Gesetze waren zu lax, man konnte überall monströs große Wände aufstellen. Und alle im Bau oder in Renovierung befindlichen Häuser (und das sind viele in São Paulo) waren auf allen Seiten von oben bis unten mit Werbung umhüllt. Einiges sah natürlich toll aus, und die Hyperposter unserer Topmodels waren so beeindruckend, dass sie die Autofahrer massiv abgelenkt haben.
SZ: Hat sich das Stadtbild merklich verändert durch das Verbot? Sieht São Paulo jetzt aus wie eine sozialistische Stadt in den achtziger Jahren - graue Wände, kein Glamour? Werbung gehört doch heute genauso zum Stadtbild jeder modernen Metropole wie Hochhäuser oder U-Bahnen.
Wilheim: Nein, São Paulo sieht deshalb nicht eintönig aus. Obwohl - ein Architekt sagte kürzlich: ,Vorher war die Stadt verwirrend und hässlich, jetzt ist sie nur noch hässlich.' Man sieht eben plötzlich all die unrenovierten, schlecht instand gehaltenen Fassaden. Und einige Hauptstraßen sind merklich dunkler, weil mit den Plakaten auch die Strahler abmontiert wurden, die sie beleuchteten.
SZ: Wie kommt das werbefreie Stadtbild denn bei den Paulistas an?
Wilheim: Den Leuten gefällt's. Einige finden es zu drastisch und hätten Ausnahmen gemacht, aber das wäre schwer umzusetzen gewesen: Wem sollte man es erlauben und wem nicht? Ich glaube, anfangs musste man das so radikal machen.
SZ: Wenn die Werbung das Stadtbild bislang derart dominierte, findet man sich dann überhaupt noch zurecht, wenn das alles von einem Tag auf den anderen verschwindet? Inwieweit sind Plakate auch Referenzpunkte auf dem täglichen Weg durch die Stadt?
Wilheim: Solche Referenzpunkte ersetzt man sich sofort. Ich glaube nicht, dass sich irgendjemand verlaufen hat, bloß weil die Werbetafeln abgebaut wurden. Gebäude, Straßenecken, Brücken sind doch sehr viel stärkere Orientierungspunkte im Stadtbild, als es jede Werbetafel je sein könnte.
SZ: Gibt es heute also überhaupt keine Werbung mehr im Stadtbild?
Wilheim: Es gibt noch ein paar Plakate, die durch Sonderregeln geschützt sind, aber ich denke, auch die werden sich nicht mehr lange halten. Und es sind noch nicht alle Plakatwände abgebaut.
SZ: Wie haben die Ladenbesitzer auf die Entscheidung reagiert? Mussten sie ihre Schilder verhängen?
Wilheim: Sie mussten ihre Werbeplakate verkleinern, aber die Firmennamen stehen schon noch an den Fassaden.
SZ: Ein Journalist aus São Paulo schrieb, er sei schockiert gewesen, weil er erst nach dem Abbau der Tafeln in seiner Nachbarschaft gesehen habe, dass dahinter ein Favela liegt.
Wilheim: Der muss aber bislang auf dem Mond gelebt haben, wenn er die Favelas nicht gesehen hat. Die Werbetafeln haben vor allem Häuserfassaden versteckt. Von denen sind freilich einige so alt, dass sie einen an Favelas erinnern können. Aber sollten einige Werbewände tatsächlich kleinere Favelas versteckt haben, dann finde ich es umso besser, wenn sie durch die Aktion sichtbar wurden. Nur so kann da was passieren. Was die Häuser angeht, hat die Aktion ja tatsächlich Konsequenzen: Es wird gerade eine Kampagne zur Fassadenverschönerung gestartet.
SZ: Glauben Sie, dass Rio und andere Städte dem Beispiel folgen werden?
Wilheim: Ich glaube schon, einfach weil die Kampagne so außergewöhnlich gut ankommt.
SZ: Versuchen die jetzt arbeitslosen PR-Agenturen und Werber das Verbot zu unterlaufen, indem sie Logos in Rasenflächen mähen oder Kleinflugzeuge mieten, die Banner hinter sich herziehen?
Wilheim: Solche Flugzeugwerbung wurde auch gleich verboten. Ansonsten muss man unterscheiden zwischen PR-Agenturen, denen ja viele Werbekanäle offenstehen und den Plakatmalern und -vermietern. Die sind jetzt wirklich schlecht dran in São Paulo. Aber es sieht so aus, als würde bald doch wieder Werbung an städtischen Gebäuden wie Bushäuschen erlaubt werden; dann kehrt die Werbung ins Stadtbild zurück, aber eben ordentlich und kontrolliert, so wie das in Städten wie Paris, New York oder London der Fall ist.
SZ: Sie finden New York und London ordentlich? Der Times Square oder Picadilly Circus sind doch albtraumhaft mit Werbung zugekleistert.
Wilheim: Das sind Ausnahmen, diese Ballung von Werbung ist eine Touristenattraktion. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie solch einen Ort der Hyperwerbung irgendwann auch in São Paulo erlauben. Aber noch mal: Warum sollten wir das tun? Warum sollten wir die Werte der Konsumgesellschaft gesetzlich fördern, wo es viel wichtigere ethische und kulturelle Werte gibt?
SZ: Nächstes Jahr sind in São Paulo ja Stadtratswahlen. Dürfen die Parteien da Werbung machen?
Wilheim: Ein paar Plakate wird es da schon geben, aber die allermeiste Wahlwerbung läuft dann übers Fernsehen.