Sandra Gugić: "Zorn und Stille":Den Eltern voraus

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Die Schriftstellerin Sandra Gugić. (Foto: Dirk Skiba)

Sandra Gugić schreibt gefühlvoll darüber, wie unterschiedlich man die Entfremdung von den eigenen Wurzeln interpretieren kann. So auch in ihrem Roman "Zorn und Stille".

Von Rudolf von Bitter

Eine Kleinfamilie serbischer Immigranten in Wien. Die Eltern, Sima und Azra, sind vor fünfzig Jahren als Gastarbeiter gekommen, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen, fernab der traditionellen Dorfhierarchie, in der ein Familienoberhaupt herrscht, der jeweilige Vater, roh, ungebildet und bei Bedarf brutal. Der eine lässt sich Wildbret servieren, während seine Frau nur Grünzeug abkriegt, der andere ist etwas weicher, aber trotzdem in archaischen Traditionen verhaftet.

Azra ist ausgewichen in eine WG nach Belgrad, aber eine ungewollte Schwangerschaft zwingt sie aus Geldmangel zurück ins Elternhaus, wo ihr gelegentlich geholfen wird, wenn auch mit Kommentaren wie: "Gewöhn dich nicht daran. Das Leben ist dir nichts schuldig." Ein Jahr lang, ab dem Beginn der Schwangerschaft, hat sich Sima von ihr ferngehalten. Azra hätte sich traditionell anderweitig verheiraten lassen können, aber dazu ist sie zu stolz.

Das Kind, das hier auf die Welt kommen soll, ist Biljana, die Ich-Erzählerin des Romans "Zorn und Stille" von Sandra Gugić. In ihrem schmalen Buch "Astronauten" hat Sandra Gugić bereits vom Leben von Jugendlichen geschrieben, deren Eltern die Brücken hinter sich abgebrochen haben. Ihnen fehlt in der Umgebung, in die sie hineingeboren sind, der Boden so sehr wie die Verbundenheit zur Heimat ihrer Eltern. Zu diesem familiären Bruch kommt im Fall ehemaliger Jugoslawen die Umdeklaration der Herkunftsländer und die Feindseligkeit einstiger Landsleute. Gugić erzählt vor diesem Hintergrund von verschiedenen Lebensentscheidungen: Einer würde sich gerne für die Naturwissenschaften und eine bürgerliche Karriere entscheiden, eine andere versucht, das Fremde an sich in eine künstlerische Laufbahn mitzunehmen, der Dritte verschafft sich durch befremdliche Gewaltakte Aufmerksamkeit. Unter ähnlich unsicheren Bedingungen wachsen im jüngsten Roman von Sandra Gugić auch Biljana und ihr Bruder Jonas Neven auf, und womöglich teilen sie die Lebensumstände kommender Desperados, wie jüngst des Attentäters in Wien.

"Die Freiheit, Türen zu haben, die man hinter sich schließen konnte."

Die Familie bekommt anonyme Anrufe: "Seid ihr Serben oder Kroaten?", und die Spötteleien an Simas Arbeitsplatz lassen ahnen, wie der Bürgerkrieg ins neue Leben hineinreicht. Später nimmt Azra immerhin noch Notiz davon, wenn wieder einer der serbischen Kommandeure geschnappt worden ist, die im westlichen Europa als Täter gelten, aber nicht bei ihr. Azra und Sima haben geschuftet und gespart für ihre Familie, die zwei Kinder und ihr Haus: "Sie hatten sich jeden dieser Räume erarbeitet. Die Freiheit, Türen zu haben, die man hinter sich schließen konnte."

Auch in der Welt ihrer Arbeitgeber ist so ein Eigenheim zwar ein Statussymbol, aber sie bleiben Neuankömmlinge, die die einheimischen Standards von Stil, Sprache und Schulbildung nicht aufweisen können. Die Kinder kennen die Codes, bemerken die Üblichkeiten, und können abschätzen, wie sehr die Eltern Außenseiter geblieben sind. Welcher Spalt zwischen ihren Möglichkeiten und der Wirklichkeit klafft. Duckmäuserisch unterlegene Eltern sind peinlich. Hatten sich die Eltern, als sie jung waren, einem archaischen Paternalismus entzogen, so entziehen sich ihre eigenen Kinder jetzt den Underdog-Eltern.

Biljana entdeckt bei den Punkern ihrer Nachbarschaft den Freiraum, der ihr eine Existenz aus eigenem Recht ermöglicht. Sie wird Fotokünstlerin und ist damit auf gutem Wege. Marktgerecht banalisiert sie ihren Namen, Biljana Banadinović, zu Billy Bana. Die Eltern schließt sie aus ihrer neuen Identität rigoros aus. Ihr jüngerer Bruder, der immer ihr naiv hilfloser Bewunderer war, bleibt auf der Suche nach seinem eigenen Weg im Nachkriegsserbien verschollen.

Die Mutter versteht nicht, dass ihre Tochter dasselbe tut wie sie seinerzeit

Billys Sichtweise dominiert, aber Azra ist die tragische Hauptfigur dieses Romans. Erst bei der Beisetzung Simas stellt sich heraus, dass er sich eine kleine Wohnung in Belgrad verschafft hat, nur für sich allein. Indes sollte Azra zu Hause immer wieder auf Fotos umgekommener junger Männer ihren Sohn identifizieren. Jahre später meldet sich eine Frau, die seine Reisetasche im Fundbüro ersteigert hat und auf den Rückseiten der Fotos, die ihm seine Schwester geschenkt hatte, diffuse Notate findet. So sehr sie immer ihren Stolz und ihren Willen behauptet hat, muss Azra jetzt hinnehmen, dass kaum etwas bleibt. Was einmal gegolten hat, die Werte der Heimat, ihre Leistung und die Emanzipation im neuen Leben, nichts hat mehr einen Wert, nicht einmal ihre Rolle als Mutter. Sie versteht nicht, dass ihre Tochter dasselbe tut wie sie seinerzeit: Sich eine neue Welt erschließen, die sich den Eltern entzieht.

"Zorn und Stille" beginnt mit Billys Aufbruch nach Belgrad zur Beerdigung des Vaters, voller Widerwillen, weil ihr die Erinnerungen hochkommen. Um das zu veranschaulichen, greift die Autorin, zum Glück nur am Anfang, tief in die Werkzeugschachtel mit den emotions. Für das ungeklärte Durcheinander von bestandenen Kämpfen und erduldeten Niederlagen der Eltern und für ihre eigenen, hat Billy auch im Rückblick keine Erklärung. Aber da, wo sie jetzt steht, fängt etwas Neues an für sie. Sandra Gugić erzählt aus einer Welt, die sich der Gesellschaft, zu der sie parallel besteht, noch nicht erschlossen hat.

Sandra Gugić: Zorn und Stille. Roman. Hoffmann und Campe, Hamburg 2020. 240 Seiten, 24 Euro.

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