Sachbuch:Ganz normal anders

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Die in Frankreich lebende türkische Soziologin Nilüfer Göle hat eine neue postmigrantische Bindestrich-Identität erforscht: den Euro-Islam. Es geht um Muslime, die Religion und Moderne gleichermaßen gewichten und leben.

Von Elisabeth Kiderlen

Von 2009 bis 2013 hat die in Ankara geborene, in Paris lehrende Professorin Nilüfer Göle in 21 europäischen Städten Feldforschung über die Lebens- und Gefühlswelt "ganz normaler Muslime" betrieben. Dabei ging es ihr um nichts Geringeres als die allmähliche Herausbildung einer neuen Bindestrich-Identität: des Euro-Islam. Während sich die öffentliche Aufmerksamkeit nach Terroranschlägen fast ausschließlich auf das Trennende konzentriert, untersucht Göle Interaktionen im Alltag und die fast unmerklichen Verschiebungen in den europäischen Gesellschaften. Und das ist äußerst interessant.

Die Soziologin und ihr Team haben sich an Kontroversen orientiert, wie sie immer dann entstehen, wenn Differenzen sichtbar werden - etwa Moscheen auf öffentlichen Plätzen erbaut werden, ein Gebet auf der Straße verrichtet, nicht nach Halal-Regeln gekochtes Schulessen verweigert wird oder aber die Vorstellungen dessen, was Satire im Umgang mit dem Heiligen darf oder nicht darf, aufeinanderprallen. Berichten die Medien darüber, wird der Vorfall zum Ereignis, bei dem sich Begegnungen auch zwischen radikal konträr denkenden Menschen ergeben, und das ist dann der Moment, wo die Forscher ins Spiel kommen. In diesen "Berührungszonen" machen sie Interviews und organisieren Gesprächsrunden, um zu erkennen, ob und wo sich neue Entwicklungen und Perspektiven auftun.

Ein Beispiel, das für viele steht: Nach den Erkenntnissen der Studie spielt die Scharia, also die religiösen Gesetze im Islam, in der Gedankenwelt europäischer Muslime keine große Rolle. Göle registriert, dass bei der Erwähnung der in der Scharia aufgeführten archaischen Strafmaßnahmen ihre Gesprächspartner eher "unangenehm berührt" reagieren: "Unmissverständlich, ja sogar mit einer Spur von Stolz betonen sie ihr Zugehörigkeitsgefühl zum europäischen Kulturkreis."

Trotzdem repräsentiert die Scharia das verbindende Band zwischen den Gläubigen. So fühlen sich gebildete Muslime unter dem Druck, die Scharia eigenständig zu interpretieren, sie also aus ihrem Entstehungskontext heraus zu erklären und die dort formulierten Regeln und Pflichten für unsere Zeit zu übersetzen. Damit machen sie sich unabhängig von den religiösen Institutionen ihres Herkunftslandes. Für kritische Muslime, so Göle, ist Europa ein "begehrter Ort", denn hier wird unabhängiges Denken anerkannt.

Ein zweites Beispiel: Während die Einwanderer der ersten Generation sich damit begnügten, ihren Glauben zurückgezogen zu Hause oder in Gebetsräumen auszuüben, betreten heute zunehmend selbstbewusste junge Frauen mit Kopftuch und beruflichen Ambitionen den öffentlichen Raum und sorgen für Verwirrung, denn in der Vorstellungswelt des Westens ist die Verhüllung ein Zeichen weiblicher Unterdrückung.

Doch diese gläubigen Frauen nehmen sich das Recht, die religiösen Gesetze neu zu interpretieren, und tragen das Kopftuch nicht als Zeichen der Unterwerfung, sondern der religiösen Zugehörigkeit. Solche Eigenständigkeit der Interpretation ist in den Herkunftsländern meist den theologischen Autoritäten vorbehalten und insbesondere für Frauen unzulässig.

Betritt mit dem sich in Europa allmählich verändernden Islam also eine Religion den öffentlichen Raum, die sich in den letzten Jahrzehnten eher in konservativer Erstarrung, ideologischer Verhärtung oder auch menschenverachtendem Fundamentalismus gezeigt hat? Und welche Rolle könnte dieser neue bewegliche Euro-Islam spielen in einem Europa, in dem "die Abschaffung des Heiligen", also des Unverfügbaren, "zur Ausgangsbedingung für eine weltliche Moderne" erklärt wurde? Das wird sich noch zeigen. Nilüfer Göle immerhin spricht von einer kulturellen Erneuerung, die einen Paradigmenwechsel auslösen könnte, weil es gilt, in Ländern, wo es nichts Heiliges mehr gibt, Religion und Moderne gleichermaßen zu leben. Muslim und europäischer Staatsbürger - eine neue Entwicklung bahnt sich da ihren Weg.

Gleichzeitig wächst das Misstrauen gegen Muslime und die Ablehnung des Islam. Durch staatliche Regulierung versucht man etwa im laizistischen Frankreich, die sichtbaren Unterschiede einzuebnen. 2004 wurde ein Gesetz verabschiedet, das demonstrative Zeichen jeglicher Religionszugehörigkeit an Schulen verbietet, generell wird es ausschließlich als "Anti-Kopftuch-Gesetz" verstanden. Inzwischen wurde es durch lokale Regeln auf Universitäten und sogar öffentliche Verkehrsmittel ausgeweitet.

Als in Bologna eine Moschee gebaut werden sollte, torpedierte Feindseligkeit jedes Gespräch

Und dann gibt es einen gegen Argumente völlig immunen Hass. Göle berichtet über eine von ihr initiierte Runde in Bologna, bei der es um einen Moscheebau im Stadtzentrum ging. Geschäftsleute, Studenten, Vertreter muslimischer Gruppierungen und Vertreter der Lega Nord waren eingeladen. Doch die demonstrativ gezeigte Feindseligkeit und Wut der Lega-Leute torpedierten jedes Gespräch. Ein Verweis auf die Konkurrenz der islamischen Geschäftsleute zu den Alteingesessenen offenbart zumindest ein Motiv: "Wie kommt es, dass die Migranten hier neben unseren Kaufhäusern Obst und Gemüse verkaufen können? Unsere Geschäfte schließen, und deren Läden florieren." Die Lega führt, ähnlich wie rechtspopulistische Bewegungen überall, einen Kampf gegen Muslime, die als Eindringlinge stigmatisiert werden. Ihre größere Angst ist dabei nicht das Scheitern von Integration, sondern deren Gelingen. Mit groben Beleidigungen als Form der Kommunikationsverweigerung zerstören sie, so Göle, "die Anstandsregeln im öffentlichen Raum", auf deren Einhaltung friedliche Gesellschaften angewiesen sind.

Göles Studie bietet ein breites Panorama der postmigrantischen Ära in Europa. Es entsteht ein eindrückliches Bild von Menschen in Bewegung, von Druck und Gegendruck, Anpassungsprozessen und Widerstand, sowie eine Analyse, die gleichzeitig Anlass zu Hoffnung wie Verzweiflung bietet.

Nilüfer Göle: Europäischer Islam. Muslime im Alltag. Aus dem Französischen von Bertold Galli. Wagenbach -Verlag 2016. 299 Seiten, 24 Euro.

© SZ vom 11.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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