Sachbuch:Echte Kosmopoliten

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Wie der linke Historiker Ferdinand Gregorovius in der "Neuen Königsberger Zeitung" die Revolution von 1848 kommentierte.

Von Stephan Speicher

Was für ein Glück! Die Gesellschaft hat "in einem großherzigen Zuge alle Schranken mittelaltriger Kastenunterschiede umgestürzt (. . .), wir leben in der endlich hereingebrochenen Zeit, wo das Volk die Gesetze gibt, weil es die Geschichte macht". Es ist Ende Mai 1848, Ferdinand Gregorovius schreibt seinen ersten Leitartikel für die Neue Königsberger Zeitung. Ein großer Ton ist gewählt.

Zum 2. Januar 1849 sieht der Autor auf das vergangene Jahr zurück, "als hätten wir ein ganzes Jahrhundert gelebt". Das alte Jahr hat das "Kainszeichen" dem Menschen "von der Stirn gewischt, indem es sein Menschenrecht heiligte. Es hat die Schranken zwischen den exclusiven Ständen niedergerissen, (. . .) es hat den Menschen als Menschen anerkannt."

Doch schon im März 1849 sieht sich Gregorovius genötigt, eine "klägliche Energielosigkeit" zu konstatieren, an der die deutsche Einheit scheitern werde. So kam es. Gregorovius löste sich aus den deutschen Verhältnissen, 1852 ging er nach Italien, das seine neue Heimat wurde. In Erinnerung ist er vor allem durch seine große und großartige "Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter" geblieben.

Ferdinand Gregorovius, 1821 in Ostpreußen geboren und dort auch aufgewachsen, hatte in Königsberg Theologie und Philosophie studiert, promoviert bei dem Hegel-Biografen Karl Rosenkranz. Dass Gregorovius während der Revolution als Journalist für die Neue Königsberger Zeitung gearbeitet hat, das wusste man seit Langem, und auch die redaktionelle Chiffre, unter der er schrieb, das Zeichen des Wassermanns, ist seit 1941 entschlüsselt. Aber die Neue Königsberger Zeitung galt seit dem Krieg als verloren. Erst nach 1989 wurde bekannt, dass sich das Exemplar der Königsberger Universitätsbibliothek in einem Archiv im polnischen Olsztyn (Allenstein) erhalten hat. Nun haben Dominik Fugger und Karsten Lorek alle Leitartikel von Gregorovius ungekürzt herausgegeben und mit einer Einleitung und ausgezeichneten Anmerkungen versehen.

Er ist auf ganz elementare Weise der Mann der Freiheit, der Völkerverständigung, der Nation

Eine solche Edition ist etwas für Wissenschaftler und Liebhaber, aber nicht nur. Wie ein Mann der Linken die Revolution beobachtete, das ist auch für Nichtspezialisten interessant. Die Verfassungsfragen im engeren Sinn, vor allem die Grundrechtsdogmatik, über die sich die Frankfurter Nationalversammlung so lange die Köpfe zerbrach, beschäftigt unseren Chronisten wenig, auch das Staatsorganisationsrecht ist nicht seine Sache. Er ist auf ganz elementare Weise der Mann der Freiheit, der Völkerverständigung und der Nation. Die scheint ihm die natürliche Organisationsform des Politischen: "Die Völker reihen sich nach ewigen Gesetzen der Anziehung im System des Weltganzen zu nationalen Ordnungen."

Wohl stehe der Begriff der Nationalität nicht "im diplomatischen Lexikon der Kabinettspolitik", aber das spricht eben gerade gegen diese. Die Diplomatie und ihr "völkertödtendes System des europäischen Gleichgewichts" empören Gregorovius immer wieder. Denn nichts sei "natürlicher, als daß die Nationen das einfache Princip stammlicher und sprachlicher Zusammengehörigkeit zur Voraussetzung des zu erwartenden neuen Staatensystems machten".

Für die Revolutionsepoche war diese Frage von so großer Bedeutung, weil es darum ging, wer zu dem vereinten Deutschland gehöre. Vor allem Preußen und Österreich waren wacklige Kandidaten, weil sie auch außerdeutsche Länder einschlossen.

"Österreich will deutsch, aber es will auch österreichisch sein", das sah Gregorovius als ein derzeit unlösbares Problem an, in einem Augenblick, zu dem die Völker "noch nicht auf dem Punkt angelangt sind, wo sie das Gedächtniß für ihre historischen Voraussetzungen glücklich verloren haben". Man hört den geschichtsphilosophischen Optimismus heraus, fragt sich aber zugleich, was wohl Nationen sein können, wenn sie denn "das Gedächtniß für ihre historischen Voraussetzungen glücklich verloren haben".

Womöglich noch interessanter der Fall Preußen, eine Reich ohne "Nationalkern". Die moderne Sicht hält es gerade für einen Vorzug, über die nationalen Gesichtspunkte die egalitäre Idee von Staat und Recht zu stellen, ein konstruktives, das heißt freies Moment. Der Gedanke ist Gregorovius nicht fremd. Preußen sei "durchaus ein "Gedanken- oder Principstaat gewesen; das ist allerdings eine große Ehre, aber ein kleiner Vortheil".

Der "energische Wille und die kräftige Einsicht seiner Herrscher" habe zuletzt nichts als eine "mechanische Zusammensetzung", das "todte Räderwerk der Administration" hervorgebracht. "Der Staat der Bevormundung war der todte Staat; der Lebensstrom ging nur von oben nach unten." Das Mechanische greift Platz, wo die Demokratie nicht wirkt, und deren oberster Grundsatz muss ein, dass "wie im athenischen Staate ein jeder Bürger ohne Ausnahme am Staate arbeiten soll". Deshalb haben Demokratien "ein möglichst gleiches Maß der Bildung zur Bedingung ihrer Existenz und ihres kräftigen Fortgangs". Das Ideal der Nation als Gemeinschaft freier Menschen verführt Gregorovius nicht zu nationalem Hochmut. Voller Sympathie schaut er auf Polen und Ungarn, Italien und Frankreich. "Nicht neidisch sind wir, weil echte Kosmopoliten." Und wenn er einen regelrechten Abscheu gegen Russland hegt, so ausdrücklich allein gegen die Herrschaft des Zaren, nicht gegen die Russen.

Gregorovius gehörte wie die Neue Königsberger Zeitung zur politischen Linken. Er begrüßt den sinkenden Einfluss der Kirchen, er setzt auf die bürgerliche Selbsttätigkeit und lässt seine Forderung nach Freiheit und Gleichheit nicht bei der Rechtsgleichheit, in der Sphäre des Staates enden: "Die sociale Erlösung des Menschengeschlechts ist noch unterdrückt durch das Monopol, durch den Reichthum und durch die Aristokratie der Bildung." Dabei ist er völlig unborniert. Alte Standpunkte revidiert er, wo neue Tatsachen auftreten, nicht ohne dies zur Sprache zu bringen.

Das macht seine Leitartikel so aufschlussreich: Ein Blick in frühes, gedankenstarkes, dabei jederzeit irritables Nachdenken über Demokratie, Freiheit und Gleichheit, über die Nation und die Verständigung der Nationen. Man liest es mit Bewunderung und nicht ohne Neid auf den hegelgespeisten Optimismus: "Was die Gegenwart leidet, macht die Zukunft schön."

© SZ vom 05.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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