Ryszard Krynicki:Signale, die das Herz empfängt

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Auszug aus der Welt der politischen Parolen: Gedichte eines polnischen Autors.

Von Nico Bleutge

Vielleicht ist die Zunge nicht mehr als ein wundes Stück Fleisch, das im Mund lebt. Manchmal gleicht sie auch einem entblößten Herzen, einer wehrlosen, nackten Schneide, dann wieder fühlt sie sich an wie ein "Knebel, der den Aufstand der Wörter / niederschlägt." Für den polnischen Dichter Ryszard Krynicki jedenfalls ist sie beides, ein "gezähmtes Tier / mit Menschenzähnen" und zugleich jenes "Unmenschliche, das in uns wächst". Schillernd ist sie, die Zunge, Königin der Dialektik, aber auch Hüterin der "wahren Lüge", wie das Gedicht, das ihre widersprüchlichen Momente zur Sprache bringt.

Diese Arbeit am Gegensatz kann dauern. Neun Einzelbände hat Ryszard Krynicki bislang veröffentlicht, schlanke Ausbeute für ein Dichterdasein, das vor fast 50 Jahren mit einem Band begann, der den Begriff "Jagdtrieb" im Titel trägt. Doch Krynicki dichtet nicht nur, er schreibt auch Essays, war Redakteur und leitet heute einen wichtigen polnischen Verlag für Lyrik. Vor allem aber übersetzt er neben dem eigenen Schreiben, wahlverwandte Stimmen wie Brecht, Celan oder Nelly Sachs. Dabei muss man sich den Dichter wie den Sprecher des Gedichts "Verfremdungseffekt" vorstellen, immer darauf bedacht, "behutsam die Steinchen / der richtigen Aussprache im Mund zu wälzen."

Bis jetzt kannte man Krynicki bei uns aus drei Sammelbänden, zwei davon hat der Übersetzer Karl Dedecius (1991) herausgegeben, den dritten die Schriftstellerin Esther Kinsky (2000). Nun hat Krynicki selbst einen Auswahlband zusammengestellt, der einen Teil der bisherigen Übersetzungen enthält, aber auch zu einem guten Drittel aus neueren Gedichten besteht, die Renate Schmidgall ins Deutsche übertragen hat.

Früh wandte sich Krynicki der Solidarność-Bewegung zu und kritisierte das Regime

Ein Dichter der Einzelheiten und der Erinnerung tritt dem Leser hier entgegen. Einer, der politische Parolen ins Leere laufen lässt und der mit jedem Vers für das Einzigartige des Lebens einsteht, immer in dem Bewusstsein, selber alles andere als vollkommen zu sein. Krynickis Blick gilt vor allem den unterdrückten und von der Gesellschaft ausgeschlossenen Menschen, es mag eine Kaspar-Hauser-Figur sein, ein Clochard in Paris oder ein "Flüchtling / aus irgendeinem Land im Bürgerkrieg".

Selbst ein Kalb, das zum Schlachthof gebracht wird, findet den Weg ins Gedicht, ebenso die junge Meise, die der Kater dem Sprecher vor die Füße legt. Während das Herz Signale aus der Vergangenheit sendet und empfängt, gleicht das Hirn einer "ausgestorbenen Stadt in der fernen Zukunft". So verknüpft Krynicki in seinen Gedichten die Zeiten und erinnert "schweigend an die toten, / ermordeten, namenlosen, spurlos verschollenen Dinge".

Nicht von ungefähr ist das zwanzigste Jahrhundert für Krynicki das "verbrecherische Jahrhundert". Seine Eltern wurden im Zweiten Weltkrieg als Zwangsarbeiter ins Lager Windberg im österreichischen St. Valentin gebracht, Krynicki selbst kam in diesem Lager 1943 zur Welt. Die "verwundete Kindheit" schärfte von Beginn an das Bewusstsein für allzu einfache Redeweisen und Mechanismen der Repression. Früh schon wandte sich Krynicki in Polen der Solidarność-Bewegung zu und kritisierte gemeinsam mit seinen Dichterkollegen der "Neuen Welle" das Regime. Immer drückender erschienen die Zustände bis zur Verhängung des Kriegsrechts zu Beginn der Achtzigerjahre - und immer platter die politischen Formeln.

Das Gedicht, hat Krynicki einmal erzählt, kann auf solche Verkürzungen nur mit einer Sprache antworten, die jeder Eindeutigkeit entgegenläuft, die mit Paradoxien und unterschiedlichen Schichten arbeitet. In den frühen Bänden sind die Gedichte oft nach Art von Listen gebaut. So gelingt es Krynicki, Stoffe aus verschiedenen Bereichen zusammenzubringen, ohne sie den Mustern der Logik oder dem Verhältnis von Ursache und Wirkung zu unterwerfen. Andernorts führt er eine Schreibweise fort, die er bei Wislawa Szymborska gefunden hat: die Kunst der bewussten Zurücknahme. Es können Fragen sein oder Wörter wie "übrigens" oder "vielleicht" - diese poetischen Widerhaken erlauben es Krynicki, seine Sätze über die Welt flugs ein wenig zu drehen.

Seltsam, dass er trotzdem bisweilen zur Pointe neigt: "Nicht aus Scham, / sondern um niemanden zu verletzten, / verberge ich manchmal mein Elend. So / tun wir es oft // mit der Wahrheit." Stärker als in solchen Zuspitzungen ist Krynicki, wenn er Aussagen gegeneinanderstellt und Begriffe aushebelt. Dann führt er seine Sätze tatsächlich "durchs Labyrinth der unterirdischen Bahnen". Das Trio der Übersetzer hat in diesem Labyrinth immer wieder überraschende Ausgänge gefunden. Besonders schön sind die Übertragungen der Haiku-Sammlungen, die Renate Schmidgall angefertigt hat.

Schade nur, dass die polnischen Texte nicht auch im Band enthalten sind. Das lässt den Leser gerade bei jenen Gedichten rätseln, in denen Krynicki mit festen Formen arbeitet. Ein Stück wie "Niemandselegie" etwa lebt von rhythmischen Brüchen und dem Spiel mit unsauberen Reimen. Doch wie soll man ohne Blick auf das Original entscheiden können, ob diese kleinen Verschiebungen der Fantasie des Dichters entsprungen sind oder dem Kopf des Übersetzers?

"Seid ohne Eile, Wörter, Regungen", heißt es in einem Vers. Und ohne Eile folgt man auch den Gedichten, liest gemeinsam mit Ryszard Krynicki aus dem Feuer oder sieht ein kleines Eichhörnchen über die Straße laufen. Bei aller Skepsis durchzieht ein Glaube an die Kraft der Poesie diese Zeilen, wie man ihm nur selten begegnet. Gut vorstellbar, dass von Krynickis Versen weit mehr bleiben wird als nur Spuren von Asche oder die "kaum lesbaren Abdrücke / von Katzenpfoten" auf dem Manuskript.

Ryszard Krynicki: Sehen wir uns noch? Gedichte. Aus dem Polnischen von Karl Dedecius, Esther Kinsky und Renate Schmidgall. Mit einem Nachwort von Renate Schmidgall. Carl Hanser Verlag, München 2017. 164 Seiten, 18,50 Euro.

© SZ vom 29.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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