Russland:Giftige Geschichte

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Unbekannte haben in Moskau einen Schülerwettbewerb der Menschenrechtsorganisation Memorial angegriffen. Die Kinder hatten Aufsätze zu den Opfern der kommunistischen Verbrechen geschrieben. Für Ewiggestrige ist das eine Provokation.

Von Julian Hans

Im Zentrum der russischen Hauptstadt haben Unbekannte am Donnerstag eine Veranstaltung der Menschenrechtsorganisation Memorial überfallen und die Schriftstellerin Ljudmila Ulizkaja mit Brillantgrün bespritzt. Das Mittel wird in Russland zur Wunddesinfektion verwendet und häufig bei Angriffen benutzt, weil es nicht abwaschbar ist.

Anlass für die Attacke war die Preisverleihung des Schülerwettbewerbs "Der Mensch in der Geschichte. Russland im 20. Jahrhundert", zu dem Preisträger aus 28 Regionen Russlands angereist waren. Memorial veranstaltet den Wettbewerb bereits im 17. Jahr. Er soll Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren ermuntern, selbst in der Geschichte der eigenen Familie und ihres Heimatortes zu forschen. Da es nahezu in jeder russischen Familie Opfer oder Täter des kommunistischen Terrors, vor allem natürlich des Stalinismus, gegeben hat - häufig auch beides zugleich - sind die Repressionen ein Thema, das häufig aufkommt.

In der zunehmend vom Staat instrumentalisierten Geschichtsschreibung aber haben solche Themen keinen Platz; sie idealisiert die Heldentaten des Großen Vaterländischen Krieges, wie der Zweite Weltkrieg in Russland heißt, und verschweigt die Entbehrungen. Stalin kommt die Rolle eines effektiven Managers zu, der den Faschismus besiegte. Dass er vorher selbst mit Hitler paktierte, kommt ebenso wenig zur Sprache wie der Preis, den er seinem Volk für den Sieg abverlangte.

In diesem Jahr bewarben sich mehr als 1600 Schüler mit ihren Arbeiten um den Memorial-Preis. Die 40 besten wurden nach Moskau eingeladen.

Vor dem Veranstaltungsort im Moskauer Haus des Kinos hielten Gegner am Donnerstag Plakate mit der Aufschrift: "Memorial, Schluss mit den Lügen" in die Höhe. Auf anderen stand: "Wir brauchen keine alternative Geschichte". Besucher der Veranstaltung wurden angepöbelt. Der deutsche Botschafter Rüdiger von Fritsch sagte nach der Attacke in einem Grußwort: "Die Wahrheit zu sagen, ist das Allereinfachste und zugleich das Allerschwerste auf der Welt. Mit Farbe kann man es nicht verhindern."

Teilnehmer der Veranstaltung machten unter den Angreifern Anhänger der Nationalen Befreiungsbewegung "NOD" aus, die von einem Abgeordneten der Kremlpartei Einiges Russland angeführt wird. Die NOD bestritt eine Verbindung. Am selben Tag etwas später wurde der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny vor seinem Moskauer Büro ebenfalls angegriffen und mit Farbe bespritzt.

© SZ vom 29.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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