Russische Literatur:Böses Senfkorn

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Der russische Schriftsteller Michail Prischwin (1873-1954) war ein Generationsgefährte Stalins. Sein 1905 begonnenes Tagebuch führte er in der Sowjetunion im Verborgenen. Jetzt hat die Zeitschrift "Sinn und Form" Auszüge auf Deutsch publiziert.

Von Lothar Müller

Er lebt auf dem Lande, in der Provinz, und notiert, dass sich seit dem frühen Morgen die Regenwolken verziehen. Den Blütenknospen der alten Birken, dem Traubenkirschbaum und dem Teufelsdorn widmet er einen ganzen Abschnitt, dazwischen finden sich Reflexionen über das Böse, und rasch ist von einer Reflexion über die Künstlerexistenz der Bogen geschlagen zur Frage nach dem Sozialismus, in dem er lebt: Ist es denkbar, dass sich aus ihm heraus ein russischer Faschismus entwickelt?

Der Schriftsteller Michail Prischwin, Jahrgang 1873, gehörte der Generation Stalins an, den er um ein knappes Jahr überlebt hatte, als er Anfang 1954 starb. Er hatte Erzählungen geschrieben, Kinderbücher und das Erfolgsbuch "Ginseng. Die Wurzel des Lebens" (1934), aber kaum jemand wusste, dass er seit der Revolution von 1905 über Jahrzehnte hinweg ein Tagebuch geführt hatte - ab 1917 wohlweislich im Verborgenen -, in dem sich Naturbeobachtungen und moralphilosophische Erwägungen, Beobachtungen zur aktuellen Politik und zum Alltag der Sowjetunion mischen. Erst von 1991 bis 2017 wurden die Tausenden von Seiten des Originals in 18 Bänden publiziert, jetzt hat die Übersetzerin Evelin Passet Kostproben aus dem Jahr 1930 auf Deutsch veröffentlicht ( Michail Prischwin: "Glücklich unsere Erben, die unsere Zeit nur lesen werden", in: Sinn und Form, 70. Jahrgang, Heft 1, Berlin 2018).

Vier freie Monate unterscheiden die Kolchos-Frau vom Arbeiter-Mann

Es sind Innenansichten eines Zeitgenossen, der noch im zaristischen Russland erwachsen geworden ist und die Bolschewiki mit Misstrauen betrachtet, ohne sie in Bausch und Bogen zu verdammen. Ein Beobachter zwischen den Klassen, dem die Schlangen vor den Geschäften ein Gräuel sind und der keine Illusionen über den Terror hegt, der mit dem Programm der Liquidierung der Kulaken verbunden ist, der als Naturkenner weiß, wovon er spricht, wenn er im Sozialismus einen Bienenstaat wittert und der über die "Rationalisierung der Geschlechterverhältnisse" schreibt: "Die Revolution bringt die Kolchos-Frau hervor, die sich vom Arbeiter-Mann nur dadurch unterscheidet, dass sie ganze vier Monate frei bekommt: zwei vor und zwei nach der Geburt".

Das Aufbauen, Bauen, die Konstruktion waren Leitmetaphern der Zeit. Für Prischwin ist die Revolution ein Abbruchunternehmen, eine Zerstörungsaktion, aber das Urteil spricht er ihr damit nicht, sondern hofft unter Aufbietung einer verzweifelten Dialektik: "Als das Böse erscheinend, erschafft sie zuletzt das Gute. Oder richtiger: Die Revolution fügt der Schöpfungskraft des Lebens das Böse selbst hinzu."

Und Stalin? "Ein Mensch, in dem kein Senfkörnchen eines humanistisch-literarischen Einflusses schlummert: ein Wilder aus dem Kaukasus in seiner ganzen nackten Blöße."

© SZ vom 13.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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