Ruhrtriennale:Der Freiräumer

Lesezeit: 6 min

David Marton wollte die Oper nie verändern. Hat er aber. Ein Treffen in Duisburg, wo er Henry Purcells "Dido und Aeneas" inszeniert.

Von Egbert Tholl

Juno und Jupiter arbeiten als Archäologen. Dabei schauen Marie Goyette und Thorbjörn Björnsson recht göttlich aus, sie tragen weiße Togen und buddeln im Sand zwischen den Trümmern auf der Bühne. Die Ausgrabungsstätte ist geschützt durch ein großes, weißes Zelt in Fachwerkbauweise, die forschenden Götter hantieren vorsichtig mit kleinen Pinselchen. Sie haben etwas entdeckt. Sie haben offenbar bereits sehr viel entdeckt, denn im Foyer der riesigen Kraftzentrale im Duisburger Landschaftspark Nord ist ein kleines "Museum der Gegenwart" eingerichtet, Schaukästen stehen herum, darin Fundstücke einer untergegangenen Zivilisation, künstliche Fingernägel, eine zerfledderte Konzertkarte, eine löchrige Jeans, eine Ölflasche. Die Beschriftung des Schaukastens sagt dazu, dass es sich um einen zähflüssigen Schmierstoff handelt, der bis ins 21. Jahrhundert im Antrieb von Verbrennungsmotoren verwendet wurde, die wiederum für individuelle Freiheit standen, im Lauf des 21. Jahrhunderts aber aus dem Privatleben der Menschen verschwanden.

Oper hat oft etwas mit Archäologie zu tun, auch wenn man Henry Purcells "Dido und Aeneas" - denn um die geht es bei dieser vierten Großproduktion der Ruhrtriennale - nicht unbedingt erst ausgraben muss. Gleichwohl: Ein mehr als 300 Jahre altes Artefakt ist sie dennoch. Man kann das Stück ins Museum stellen oder sich fragen, was es bedeutet, was es erzählt. Der Regisseur David Marton wählt die zweite Möglichkeit.

Juno und Jupiter haben inzwischen ein Ding freigelegt, das zunächst wie eine Keramik oder ein Schmuckstück aussieht. Ihr Tun sieht man großformatig auch auf Video, und es wird begleitet von einem Sirren und Summen aus dem Graben, das Kalle Kalima komponiert hat, der hier selbst E-Gitarre spielt. In diesem Flirren tauchen klangliche Fundstücke aus Purcells Oper aus, wie verschüttete Entdeckungen. Man ahnt, dass der Abend viel konsequenter gedacht und geplant ist, als es vordergründig den Anschein haben könnte.

Jedenfalls erweist sich der Fund der Archäologen als ein Handy, auf dem Fotos gespeichert sind. Fotos von Dido, der legendären Königin des legendären Karthago, von ihrem ersten Mann, der getötet wurde. Und dann setzt Purcells Ouvertüre ein, rasend schön gespielt vom Orchester der Opéra de Lyon unter Pierre Bleuse, und mit der Oper beginnt die Geschichte von Dido, die Aeneas liebt wie er sie, der aber weiter muss, Rom gründen als Ersatz für das zerstörte Karthago, Jupiter will es so. Und Dido stirbt an Liebeskummer, singt am Ende "When I am laid in earth", also begraben sein wird. Um später vielleicht wieder ausgegraben zu werden. Als Fundstück, als Skelett, dessen Knochenhand noch die Computermaus hält. "Remember me", die schönste Arie der Barockoper.

Er machte lange Zeit Theater mit Musik, basierend auf Opernstoffen, also doch Oper, aber halt auch nicht.

David Marton, geboren 1975 in Ungarn, hat schon einige der ungewöhnlichsten Musik-Theaterabende entworfen. Der Bindestrich ist wichtig, denn fast alle fanden in Schauspielhäusern statt. Marton machte lange Zeit Theater mit Musik, basierend auf Opernstoffen, also letztlich dann doch Oper, aber halt auch nicht.

In der ersten Saison von Matthias Lilienthal an den Münchner Kammerspielen übertrug er Vincenzo Bellinis "Sonnambula" vom entrückten Belcanto in eine wundersam gutgelüftete Erzählung über die Wahrheit von Gefühlen und brauchte dafür gerade mal eine Handvoll Musiker und Sänger; im selben Jahr, 2016, baute er in den Hof des Hauses eine Opernbude für intimste Begegnungen, schon hier gab es "Dido und Aeneas", allerdings nur ein paar Minuten und nur für drei Zuschauer.

Marton hat am Schauspiel Dresden Wagners "Rheingold" mit ein paar Schauspielern, Musikern und Sängern als überlegen durchsichtige und alle Mittel der Oper durchschauende Theatererzählung präsentiert, hat aus Bachs "Wohltemperierten Klavier" Theater gemacht, an der Berliner Schaubühne und am Hamburger Thalia Theater die Schönheit von Monteverdis Musik zu einem intimen Erlebnis werden lassen, hat vieles an der Berliner Volksbühne gemacht, dazu gleich. Eines fällt auf: Die genannten sind keine Opernhäuser.

Lyon schon. Die Oper dort wird geleitet von dem unternehmungslustigen Serge Dorny, der das Haus zu einem der spannendsten in Europa machte und 2021 die Bayerische Staatsoper übernehmen wird. Es ist das einzige Opernhaus, an dem Marton bislang gearbeitet hat, das allerdings schon fünf Mal.

Die ersten Inszenierungen, sagt er, seien richtig Oper gewesen, dann sei er freier geworden. "Eine kontinuierliche Entwicklung", von beiden, Marton und Dorny. Als vor langer Zeit Stefanie Carp, Leiterin der Ruhrtriennale, Marton nach einer Zusammenarbeit fragte, dachte er an eine Minihalle, an Oper im LKW. Es wurde dann doch ein Riesenzauber, mit vollem Orchester, zwei Schauspielern (die Götter), drei Opernsängerinnen und -sängern und Erika Stucky als Hexe, Zauberin, Venus, archaisches Jodelgurgelwesen. Herausgekommen ist die Aufführung im März in Lyon; ihre wahre Pracht jedoch entfaltet sie erst in der riesigen Industriehalle in Duisburg.

Er habe in Ungarn den üblichen Weg einer Musikausbildung in sozialistischen Zeiten eingeschlagene, so Marton, also Musikschule, Konservatorium, Akademie, hat Klavier studiert, bis er auf einen Flyer für einen Sommerkurs in Berlin stieß. Zufall. Er nahm ihn an. Und begann, an der Hanns-Eisler-Musikhochschule das Dirigierstudium. "Dirigieren ist auf mittelmäßiger Ebene nicht so kompliziert."

"Dann entdeckte ich die Theaterwelt wie im Rausch."

Erst jenseits der technischen Ebene werde es interessant, wenn Gehör, Genialität und Gehirn dazukämen. Er lässt offen, wie er sich selbst da sieht. Wohl eher skeptisch. Schließlich sah er den nächsten Flyer, die Schaubühne suchte einen Korrepetitor, Marton, wie er sagt, "einen Job und Kohle". Am Ende war er der musikalische Leiter der Produktion, der Schauspieler Matthias Matschke meinte, Marton müsse Christoph Marthaler an der Volksbühne kennenlernen, nahm ihn dorthin mit, wieder unterstützte Marton die Proben, fühlte sich geduldet, "als habe er einen Asylantrag laufen", bis ihm Anna Viebrock, die Ausstatterin, eine Hose gab. Da wusste er, er ist dabei.

"Dann entdeckte ich die Theaterwelt wie im Rausch." Zwei Jahre lang saugte er alles auf, machte seine erste freie Produktion in den Berliner Sophiensälen mit Menschen, mit denen er bis heute zusammenarbeitet. Nur Jelena Kuljic, flirrende Sängerin avantgardistischen Jazz', hat er verloren. "Sie ist Staatsschauspielerin geworden, das ist toll für sie, aber sie fehlt mir." Kuljic ist im Ensemble der Kammerspiele.

Marton dachte nicht an Oper im Theater. Sondern eben an Musik-Theater. Er wollte "durch und mit Musik Menschen erzählen". Er habe die Oper gar nicht verändern wollen, sie lieferte ihm einfach das Material, mit dem er arbeiten wollte. "Ich habe nicht daran gedacht, wie und ob das als Oper wahrgenommen wird." Er brauchte einen freien Raum, um frei arbeiten zu können, und das war die Volksbühne, das einmalige Biotop: "Ich hätte Castorf zum Intendanten auf Lebenszeit ernannt".

David Marton ist keiner, der antrat, den Opernbetrieb umzukrempeln, in dem die Werkgestalt, ganz anders als im Schauspiel, für sehr viele immer noch sehr heilig ist. Nimmt man etwa seine Duisburger "Dido", so kriegt man alles, was Purcell komponierte, man kriegt einen aufregenden Chor und zwei tolle Frauen, Alix Le Saux als Dido und Claron McFadden als Belinda, und Guillaume Andrieux als Aeneas, einen Bariton, der falsettieren kann wie ein Counter. Man kriegt also die ganze Barockpracht, aber noch viel mehr. Nämlich die Antwort auf Martons Frage, wie man mit den formell starken Vorgaben des Musiktheaters erzählen kann. Bei vielen Regisseuren kommt dabei eine konzeptuelle Erzählung heraus, die an den Rändern knirscht. Was auch nicht so schlimm ist.

"Ich will nicht zwei Stunden lang auf den Minimoment der Legitimation meiner Regie warten."

Martons beschreibt sein Dilemma so: "Ich bin ein Straßenhund zwischen Theateridentitäten", zuhause in der deutschen Bahn, manchmal auch in Berlin. Zudem lassen sich freie Musiktheaterproduktionen so gut wie nicht finanzieren, die Oper will Oper, die Theater wollen meist mindestens zur Hälfte ihre Schauspieler in den Produktionen sehen - daran scheiterte Martons "Figaro" an den Kammerspielen.

"Ich würde gerne Musiktheaterprojekte machen, die frei mit der Musik umgehen. Dafür aber sehe ich immer weniger Platz im deutschen Stadttheater." Im Theater will er kein "Klangchen" im Hintergrund, er will aber in der Oper selbst auch keine "künstlerische Rechtfertigung durch Miniänderungen". Und kein Marton-Siegel. Als nächstes macht er Oper-Oper, Tschaikowskis "Pique Dame" in Brüssel. Wahrscheinlich ändert er da gar nichts am Werk. "Ich will nicht zwei Stunden lang auf den Minimoment der Legitimation meiner Regie warten, ich will drei Stunden eine Geschichte erzählen. Und ich habe auch nicht die Hybris zu glauben, ich würde die Oper verändern."

In Zeiten, in denen nonkonforme Projekte an den meisten Häusern in der Tischlerei oder im Malersaal stattfinden (wenn überhaupt), klassische Konzertprogramme meist aus der Wiederholung des Immergleichen bestehen, fand Marton seine Freiheit. Seine "Dido" erzählt mit psychologischer Wahrhaftigkeit die Geschichte, atmet Gegenwart durch Kalimas Interventionen, wodurch Raum entsteht, völlig naheliegend das Stranden der Trojaner in Karthago als zeitgenössisches Flüchtlingsdrama zu erzählen, aber sie blinzelt mit den archäologischen Göttern auch in Richtung der Wahrnehmung von Oper an sich. Wann die nächste Gelegenheit zu so etwas kommt? "Oper ist nicht mein Lebensthema. Musik ja."

© SZ vom 31.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: